Zusammenfassung
Auf der Grundlage von Archivalien und Primärliteratur wird die Geschichte der sozialpsychiatrischen
extramuralen Versorgungsform der Familienpflege zwischen 1904 und 1940 konkret am
Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen dargestellt. 1904 von Georg Lehmann
vornehmlich als Therapieform intendiert, gewann die Familienpflege nach Widerstand
in der Bevölkerung an Bedeutung. Die sozioökonomischen Verwerfungen infolge des Ersten
Weltkriegs führten zu ihrem zwischenzeitlichen Rückgang. Indizien legen nahe, dass
ein Teil der Dösener Familienpfleglinge 1940 in die Tötungsaktion T-4 einbezogen wurde.
Die Studie zeigte aber auch, dass mindestens ca. ein Drittel der Familienpfleglinge
aufgrund ihrer in Kriegszeiten dringend benötigten Arbeitskraft überlebten.
Abstract
On the basis of archival sources and primary literature the study exemplifies the
history of one form of extramural social psychiatric care on the example of one particular
institution, the town asylum of Leipzig-Dösen. Family care was introduced in Leipzig
in 1904 by Georg Lehmann, primarily as an alternative treatment option. After initial
opposition among the local population had been defeated, this form of treatment was
soon quite accepted. Due to the socioeconomic changes as a result of World War I,
the extent of family care was downsized. From 1940 family care in Dösen was abolished,
due to a change in ideology. Part of the patients previously in family care fell victim
to the National socialist T-4 programme to murder chronically mental ill. However,
this study could also prove that at least one third of these patients survived. It
can only be presumed to which extent this was due to their physical work being needed
as a result of war shortages.
Schlüsselwörter
Geschichte der Psychiatrie - Reformpsychiatrie - psychiatrische Versorgung - Familienpflege
- Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen
Keywords
history of psychiatry - psychiatric reform - mental health care - family care - Leipzig-Dösen
asylum
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1 Rechnerisch ermittelte Zahl aus dem Übersichtswerk des Berliner Nervenarztes Hans
Laehr ([8] u. a. S. 270). In der Zahl enthalten sind Patienten in fast allen öffentlichen und
privaten Anstalten, psychiatrisch-neurologischen Universitätskliniken und Irrenabteilungen
an Strafanstalten. Nicht enthalten sind Patienten in Alkoholikeranstalten, Heilerziehungsanstalten
(also Kinder und Jugendliche) und psychiatrisch-neurologischen Kuranstalten.
2 Die Autoren danken Herrn Ulrich Rottleb (Stadt Leipzig / Gesundheitsamt / Psychiatriekoordination)
für Hinweise auf diese Aktenbestände.
PD Dr. rer. medic. habil. Holger Steinberg
Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universität Leipzig
Semmelweisstraße 10
04103 Leipzig
Email: holger.steinberg@medizin.uni-leipzig.de