Hintergrund: Bürger sollten an Entscheidungen darüber, welche Kriterien die Prioritätensetzung
in der Medizin leiten sollen, beteiligt werden. Eine Form der Bürgerbeteiligung besteht
in der Durchführung von Umfragen. In Deutschland wissen wir bisher sehr wenig über
die Einstellungen der Bevölkerung zu den Kriterien, die Priorisierung zugrunde liegen
sollen. Die vorliegende Studie zielt darauf, die Bedeutung verschiedener Priorisierungskriterien
aus Sicht der Bevölkerung zu erheben und zu untersuchen, inwieweit die Beurteilungen
von der Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen abhängen. Methode: Im Rahmen eines postalischen Surveys wurden 3000 zufällig ausgewählte Lübecker Bürger
(ab 18 Jahren) zu ihren Erfahrungen im Gesundheitswesen und zu inhaltlichen und formalen
Priorisierungskriterien befragt. Der Rücklauf betrug nach zwei Erinnerungsschreiben
45,5%. Neben einer ersten deskriptiven Auswertung wurden bi- und multivariate Zusammenhangsanalysen
zwischen der Bewertung der Priorisierungskriterien und den Merkmalen der Befragten
durchgeführt. Ergebnisse: 78% der Befragungsteilnehmer hielten den Nutzen einer Behandlung, 73% die Evidenz
und 68% die Krankheitsschwere für anwendbare Priorisierungskriterien. Geringere Zustimmung
erhielten die Kriterien Bevorzugung von Kindern (53%), familiäre Verantwortung (44%),
Lebensstil (43%) und Effizienz der Behandlung (40%). Eine Bevorzugung von Patienten
nach ihrem Alter (27% Zustimmung) oder ihrer gesellschaftlichen Verantwortung (15%
Zustimmung) wurden eher abgelehnt. Die wichtigsten Einflussgrößen auf die Bewertung
der Priorisierungskriterien waren Alter und Schulbildung. Die Effekte dieser Variablen
waren jedoch in der Regel nicht linear, ihr Ausmaß eher gering. Das Geschlecht sowie
der selbst berichtete Gesundheitszustand haben kaum Erklärungskraft. Diskussion: Demographische Variablen können die Heterogenität in der Bewertung einzelner Priorisierungskriterien
nur unzureichend erklären. Das weist darauf hin, dass kein einfacher und grundlegender
systematischer Dissens über Priorisierungskriterien in verschiedenen Bevölkerungsgruppen
vorliegt. Dies spricht für den Ansatz einer bevölkerungsgruppenübergreifenden Einigung
über inhaltliche Priorisierungkriterien Weiterführende Erkenntnisse liefert eine im
Frühsommer 2010 in Lübeck durchgeführte Bürgerkonferenz mit 20 Surveyteilnehmern.