Der Klinikarzt 2010; 39(10): 441
DOI: 10.1055/s-0030-1268524
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Darmkrebs: mehr Kranke, aber weniger Tote

Günther J. Wiedemann
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Publication Date:
02 November 2010 (online)

Das Robert Koch-Institut gibt für das Jahr 2006 in Deutschland etwa 68 740 Darmkrebskranke und 27 225 Darmkrebstote an. Die Darmkrebs-Inzidenz in Deutschland beträgt demnach rund 84 pro 100 000 Menschen im Jahr und ist damit deutlich höher als in anderen Ländern Europas (67/100 000) oder in der Welt (44,8/100 000). Von 1980 bis 2006 hat die altersstandardisierte Inzidenz an Darmkrebs bei Männern um 34 % und bei Frauen um 26 % zugenommen, während die altersstandardisierten Sterberaten bei Frauen um 38 % und bei Männern um 24 % abgenommen haben (relatives 5-Jahres-Überleben 1980: 50 %, geschätzt 2006: > 63 %). Bei Frauen hat diese Entwicklung zu einem absoluten Rückgang der Zahl der Sterbefälle geführt. Seit 1990 ist es in Deutschland vor allem zu höheren Inzidenzen bei Älteren (mittleres Erkrankungsalter der Männer: 69 Jahre, der Frauen: 75 Jahre) und gleichzeitig rückläufigen Sterberaten gekommen. Derzeit werden bei erheblich niedrigerer Sterblichkeit bis zweimal so viele Kranke mit kolorektalen Karzinomen entdeckt wie zu Beginn der 1980er Jahre. Das kolorektale Karzinom ist also eher eine Alterserkrankung, das in Deutschland offenbar mit der Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters häufiger auftritt, häufiger diagnostiziert und erfolgreicher behandelt wird als früher.

Für diesen klaren und unstrittigen Erfolg sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht protektive Maßnahmen zur Verhinderung von Adenomen und Karzinomen (primäre Prävention z. B. durch Lifestyle-Änderungen oder Medikamente wie ASS) verantwortlich zu machen, sondern Verbesserungen der Früherkennung und Therapie der Krebsvorläufer (Sekundärprävention), der Diagnostik und Therapie des Karzinomleidens selbst und der Tumornachsorge mit dem Ziel der Früherkennung von resezierbaren Tumorrezidiven und Metastasen.

Kolorektale Karzinome können trotz Fernmetas- tasen (z. B. Lebermetastasen) geheilt werden, wenn diese vollständig reseziert oder zerstört werden. Wie zahlreiche große klinische Studien nachgewiesen haben, sind diagnostische wie auch therapeutische Maßnahmen auch bei Älteren und sogar Hochbetagten erfolgreich zu beherrschen.

In der Sekundärprävention wird die Sterblichkeit vor allem durch die komplette („hohe“) Koloskopie reduziert (Sensitivität 95 %, Spezifität 100 %, protektiver Effekt 6–10 Jahre, Risiko für Perforation/Blutung < 0,1 %), weil im vollständig sichtbaren Dickdarm präkanzeröse Läsionen (Polypen/Adenome) entfernt und Gewebsproben sofort entnommen werden können. Mit der früher häufiger durchgeführten flexiblen Sigmoidoskopie wird zwar eine Reduktion der Mortalität von Karzinomen des Rekto-Sigmoids um 60–80 % erzielt, aber die Hälfte aller proximalen neoplastischen Läsionen wird übersehen. In Anbetracht der Häufigkeit kolorektaler Karzinome ist es nicht zeitgemäß, evidenzbasiert oder leitliniengerecht, eine flexible Sigmoidoskopie anstelle einer kompletten Koloskopie nur wegen des höheren Lebensalters des Patienten durchzuführen. In Deutschland besteht das größte Problem aber eindeutig nicht darin, dass wichtige Diagnostik- oder Therapieangebote vorenthalten werden. Bedauerlicherweise nehmen derzeit Vorsorgeangebote überhaupt nur 35 % der Frauen und 18 % der Männer an. Öffentliche Kampagnen erhöhen nachweislich die Bereitschaft an Vorsorgeuntersuchungen teilzunehmen, besonders dann, wenn die Erfolge der interdisziplinären Darmkrebstherapie verständlich gemacht werden.

Prof. Dr. med. Günther J. Wiedemann

Ravensburg

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