Z Gastroenterol 2011; 49(5): 577-578
DOI: 10.1055/s-0031-1273323
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Reizdarmsyndrom – eine Fehlbezeichnung?

Irritable Bowel Syndrom – a Misnomer?T. Frieling1 , M. Schemann2 , C. Pehl3
  • 1Medizinische Klinik II, HELIOS Klinikum Krefeld
  • 2Humanbiologie, Technische Universität München
  • 3Medizinische Klinik, Kreiskrankenhaus Vilsbiburg
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Publication Date:
09 May 2011 (online)

Funktionelle Verdauungsstörungen gehören zu den häufigsten Beschwerden, die zu Arztbesuchen führen. So berichteten in Deutschland etwa 18 % der Befragten, innerhalb eines Jahres an Sodbrennen, Völlegefühl, Übelkeit oder Durchfall gelitten zu haben [1]. Viele dieser Patienten werden klinisch dem Reizdarmsyndrom zugeordnet, da funktionelle Abdominalbeschwerden häufig eine Beziehung zum Stuhlverhalten (Durchfall, Verstopfung und Stuhlgangveränderung) aufweisen und bereits früh ein ursächlicher Zusammenhang und eine eigene Krankheitsentität vermutet wurde. Neuere Untersuchungen zeigen aber, dass die Existenz eines eigenständigen funktionellen Krankheitsbilds („Reizdarmsyndrom”) mit der durch die Rom-III-Kriterien vorgegebenen engen Definition nur für Subkollektive von Patienten mit funktionellen Darmbeschwerden angewendet werden kann. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und die Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) haben sich daher diesem klinischen Dilemma angenommen und eine aktuelle S 3-Leitlinie für das Reizdarmsyndrom erstellt [2].

Die bisherigen engen Definitionen des Reizdarmsyndroms implizieren gemäß der grundsätzlichen Definition von Syndromen Anhäufungen von miteinander zusammenhängenden Symptomen, d. h. von Kennzeichen oder charakteristischen Merkmalen für einen bestimmten Zustand oder ein Störungsbild. Bei funktionellen Erkrankungen müssen also immer dieselben Symptome auftreten um von einem Syndrom sprechen zu können. Für das Reizdarmsyndrom liegen in der Literatur bisher aber nur 6 Arbeiten [3] [4] [5] [6] [7] [8] an selektionierten und unterschiedlichen Patientenkollektiven vor, in denen durch Cluster-Analyse eine überzufällige Assoziation verschiedener funktioneller Beschwerden zu teilweise unterschiedlichen Symptomen-Clustern beschrieben wurden. Dieses Symptomen-Clustering konnte allerdings in einer anderen Arbeit nicht betätigt werden [9].

Die einheitliche Einordnung des Reizdarmsyndroms als Erkrankung (Disease), Befindlichkeitsstörung (Illness, Sickness) oder Störung (Disorder) ist schwierig, wobei aufgrund der deutlichen Symptomen-Überlappung mit anderen funktionellen Erkrankungen bzw. der großen Variabilität im zeitlichen Verlauf die Existenz natürlicher Symptomen-Cluster für große Patientenkollektive angezweifelt werden muss. Es liegen ebenfalls bisher keine Daten vor, ob sich der Verlauf und/oder das therapeutische Ansprechen der durch die Manning, Rom I, Rom II bzw. Rom III charakterisierten Reizdarm-Kollektive signifikant voneinander bzw. von den Patientenkollektiven mit ähnlichen Symptomen, die aber nicht den strikten Definitionen entsprechen, unterscheiden. So wurden in einer retrospektiven populationsbezogenen Studie [10] in einer klinischen Praxis (primary care) 890 IBS-Patienten analysiert, von denen nur 404 Patienten eine der 3 diagnostischen Definitionen (Manning-, Rom-I- und Rom-II-Kriterien) erfüllten. Hierbei zeigte sich, dass bei strikter Anwendung der Definitionen die Konkordanz zwischen den Reizdarm-Kollektiven, die nach Manning, Rom I oder Rom II definiert wurden, sehr gering war (Manning und Rom I = 9 %, Manning und Rom II = 1 %). Es ist also fraglich, ob die Beschreibung des Reizdarmssyndroms durch verschiedene Symptome als Ganzes eine genauere Diagnosestellung mit Charakterisierung von wesentlichen Unterschieden im Verlauf gegenüber anderen funktionellen Abdominalstörungen aufzeigt.

Die Definition des Reizdarmsyndroms beruht überwiegend auf patientenbezogenen subjektiven Angaben, wobei die angegebenen Symptome unspezifisch sind und sich auch bei organischen Erkrankungen finden. Die Einordnung als funktionelle Erkrankung beruht hierbei auf dem mittels konventioneller Untersuchungstechniken fehlenden Nachweis organischer Korrelate, die die Beschwerden der Patienten erklären könnten. Aus diesem Grunde fehlt für das Reizdarmsyndrom und für die postulierten Reizdarm-Subgruppen (Diarrhö bzw. Diarrhö-Obstipations-dominant) bisher sowohl eine einheitliche Pathophysiologie noch gibt es Hinweise auf einen unterschiedlichen klinischen Verlauf bzw. eine unterschiedliche Prognose.

In den letzten Jahren wurde zunehmend deutlich, dass sich bei bestimmten Reizdarmpatienten organische Störungen und strukturelle Alterationen in der Darmwand nachweisen lassen. Ein wesentlicher Fortschritt basierte auf der Anwendung der quantitativen Histopathologie, die über die bis dahin üblichen Färbemethoden hinausging. Solche Studien beschreiben eine erhöhte Anzahl enterochromaffiner Zellen, Mastzellen, intraepithelialer Lymphozyten oder Schmerzfasern in der Darmschleimhaut von Reizdarmpatienten [11]. Diese Änderungen sind z. T. assoziiert mit einem Missverhältnis zwischen pro- und antiinflammatorischen Cytokinen. Keine dieser klar definierten strukturellen Änderungen hat jedoch bisher die positive Diagnose Reizdarm ermöglicht. Darüber hinaus sind diese Änderungen nicht bei jedem, entsprechend den Rom-Kriterien diagnostizierten, Reizdarmpatienten nachweisbar. Analysen von Patientensubkollektiven weisen auf periphere Störungen hin, die sich in einer, durch Mediatoren wie Histamin, Serotonin und insbesondere Proteasen induzierten, Sensibilisierung enterischer Nervenzellen und Nerven der Darm-Hirnachse äußert [12] [13] [14]. Diese Sensibilisierung geht einher mit veränderter Dichte und/oder Reaktivität immunkompetenter Zellen in der Darmschleimhaut von Reizdarmpatienten, trotz endoskopisch unauffälliger Schleimhaut und normaler Hämatoxylin-Eosin-Färbung. Dies hat bereits klinische Konsequenzen, da einige dieser Patienten eine Symptomverbesserung unter antiinflammatorischer Therapie zeigen [15] [16].

Die Fülle der pathophysiologisch relevanten Marker und Faktoren steht in klarem Widerspruch zur Einheitsdiagnose Reizdarmsyndrom, insbesondere der in den bisherigen Definitionen geforderte Zusammenhang zwischen gastrointestinalen Beschwerden mit Stuhlgangveränderungen. Dieser wesentliche Punkt wurde in der aktuellen „S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom” durch Erarbeitung einer „neuen” Definition berücksichtigt [2]. Erste Ansätze zur Auflösung dieses Dilemmas existieren bereits und orientieren sich an den strukturell-organischen Veränderungen bzw. an dem pathophysiologischen Hintergrund. So werden Reizdarmsymptome, die nach einer infektiösen Gastroenteritis auftreten, als postinfektiöser Reizdarm bezeichnet [17]. Die bei einigen Reizdarmpatienten beschriebene Mastzellhyperplasie wird inzwischen als „duodenal mastocytosis” [18] oder „jejunal mastocytosis” [19] bezeichnet, da die strukturellen Veränderungen im Dünndarm z. T. ausgeprägter sind als im Dickdarm. Daraus ergeben sich Überlappungen mit Patienten mit systemischen Mastzellüberaktivitätsstörungen mit gastrointestinalem Phänotyp [20] [21] [22].

Die zunehmende Charakterisierung von Subgruppen von Reizdarmpatienten mit unterschiedlichen pathophysiologisch relevanten Faktoren impliziert eine differenzierte Diagnose und Therapie dieser Patienten. Da im klinischen Alltag die Betreuung von Problempatienten nicht generell gewährleistet werden kann, ist die Etablierung von vernetzten klinischen und grundlagenwissenschaftlichen neurogastroenterologischen Zentren zu fordern.

Literatur

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Prof. Dr. Thomas Frieling

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