Fortschr Neurol Psychiatr 2011; 79(5): 265-266
DOI: 10.1055/s-0031-1273375
Editorial

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Probleme der psychiatrischen Klassifikation

Problems in Psychiatric ClassificationJ. Klosterkötter1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Köln
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Publication Date:
03 May 2011 (online)

Es lohnt sich sicherlich, in der derzeit laufenden Vorbereitungsphase für die anstehenden Neufassungen der psychiatrischen Diagnosen in den weltweit gebräuchlichen Klassifikationssystemen an einige Grundsatzprobleme dieses Revisionsprogramms zu erinnern. Dies geschieht in dem Beitrag von Jäger et al. in diesem Heft [1] auf dem Wege eines historischen Rückblicks, der Fragen von durchaus anhaltender Aktualität wiederaufgreift und seine Leser dadurch gedanklich an dem anspruchsvollen Projekt der kontinuierlichen Fortentwicklung des psychiatrischen Diagnosesystems teilnehmen lässt.

Als Karl Ludwig Kahlbaum und Emil Kraepelin Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Prozess in Gang brachten, orientierten sie sich an den damaligen Fortschritten der somatischen Medizin und formulierten auch für die psychischen Störungen ein klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm. An die Stelle der früheren rein psychopathologischen Unterscheidungen bloßer Zustandsbilder, von denen es zwangsläufig zu viele Misch- und Übergangsformen gab, sollte eine kategoriale Einteilung nicht nur nach symptomatologischen Kriterien, sondern auch nach Verlauf und Ausgang, hirnpathologischen Korrelaten und Ursachen treten, wie sie beispielsweise für manche Infektionskrankheiten in dieser Zeit schon erreicht worden war. Kraepelins Grundanschauung, dass es sich nämlich bei den psychischen Störungen ebenfalls um Krankheiten im Sinne der Körpermedizin handelte und sie dementsprechend eines Tages auch als ätiopathogenetisch distinkte nosologische Einheiten voneinander abgrenzbar wären, hat den gesamten nachfolgenden Klassifikationsprozess mit seinen zahlreichen Revisionen und Modifikationen durchgehend geprägt. Das lässt sich ebensowohl für die traditionellen wie für die modernen psychiatrischen Klassifikationssysteme bis hin zu den derzeit geltenden operationalisierten und globalisierten DSM- und ICD-Diagnosen aus den jeweiligen Begründungsgängen unschwer ersehen [2].

Interessanterweise ist das klinisch-nosologische Einteilungsprogramm bis heute nur ein einziges Mal mit wirklich schwerwiegenden Argumenten grundsätzlich infrage gestellt worden und dieser Zeitraum, an den Jäger et al. [1] nun wieder einmal erinnern, liegt inzwischen schon gute 100 Jahre zurück. Damals hatte zuerst der große Gegenspieler Emil Kraepelins, Carl Wernicke, aus seinem umfassenden zeitgenössischen neuropsychologischen Wissen heraus darauf aufmerksam gemacht, dass unterschiedlich lokalisierte Hirnfunktionsstörungen auf ein und demselben Krankheitsvorgang und umgekehrt Hirnfunktionsstörungen mit ein und demselben Angriffspunkt auf unterschiedlichen Krankheitsvorgängen beruhen können. Dementsprechend wären in den deskriptiv-psychopathologisch voneinander abgrenzbaren, etwa deliranten, hysterischen oder schizophrenen Zustandsbildern immer nur, wie es dann später hieß, diagnostisch unspezifische Reaktions- oder Prädilektionstypen zu sehen, in denen eine bestimmte pathogenetische Endstrecke, nicht aber auch ein distinkter Ursachenfaktor oder Ursachenkomplex zum Ausdruck käme. Hätte sich diese frühe grundsätzliche Nosologiekritik auf dem psychiatrischen Wissensgebiet seinerzeit durchgesetzt, wäre der gesamte nachfolgende Klassifikationsprozess wohl in der Tat von vorneherein auf multiaxiale Konzeptionen festgelegt worden. Genau die Einteilungsgesichtspunkte nämlich, klinisches Erscheinungs- oder Zustandsbild, Verlauf und Ausgang, hirnpathologische Korrelate und Ursachen, die Kahlbaum und Kraepelin erstmals programmatisch zur Deckung bringen wollten, hätte man wieder wie in vorklinischer Zeit auseinanderhalten und in der zukünftigen Forschung nicht allein aus pragmatischen, sondern logischen Gründen getrennt voneinander berücksichtigen müssen. Stattdessen blieb die Zielvorstellung, dass Diagnosen volle Krankheitseinheiten wiedergeben sollten, zumindest als Hypothese, Postulat, heuristisches Prinzip oder, wie Karl Jaspers sich später ausdrückte [2], als regulative Idee in Kraft und hat dazu geführt, dass man auch heute wieder in der nach wie vor fehlenden neurobiologischen Fundierung der psychiatrischen Diagnosen einen der wichtigsten Beweggründe für die anstehende Revision der Klassifikationssysteme sieht.

Nun lassen sich allerdings alle die in der Tradition diskutierten und gegeneinander positionierten Ordnungsmöglichkeiten der psychischen Störungen durchaus auch vorteilhaft miteinander verbinden. Ob, welche und wie viele Zuordnungsachsen etabliert werden sollten, welche Merkmale besser kategorial oder dimensional zu fassen wären, das alles sind Fragen, die man nur durch Sichtung der zusammengetragenen Datensätze von Revision zu Revision wieder neu beantworten kann [3]. Dass die psychiatrischen Diagnosen bis heute nur Syndrome mit unterschiedlichem Verlauf und unterschiedlichen Ursachenfaktoren wiedergeben, wirkt zwar nosologisch ernüchternd, schließt aber die Entdeckungsmöglichkeit heute noch unbekannter, neuartiger Genotyp-Phänotyp-Zusammenhänge für die Zukunft nicht aus [4]. Psychiatrische Diagnosen sind auch heute im günstigen Falle nur, was sie schon immer waren, nämlich nicht mehr als brauchbare Begriffe, die Patienten und Ärzte je nach dem erreichten Wissensstand über den zu erwartenden spontanen Verlauf und Ausgang sowie die evidenzbasierten Behandlungsmöglichkeiten und deren Erfolgschancen bei der betreffenden Störung orientieren. Das haben im Übrigen Emil Kraepelin und seine Kontrahenten im nosologischen Richtungsstreit seinerzeit schon genauso gesehen.

Prof. Dr. J. Klosterkötter

Literatur

  • 1 Jäger M, Frasch K, Becker T. Erik Essen Möller und die Wurzeln der multiaxialen Diagnostik in der Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2011;  79 276-281
  • 2 Klosterkötter J. Traditionelle Klassifikationssysteme. In: Möller H J, Laux G, Kapfhammer H P, Hrsg. Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie. Band 1: Allgemeine Psychiatrie.. 4. Aufl Heidelberg: Springer; 2011: 455-477
  • 3 Möller H J. Systematic of psychiatric disorders between categorical and dimensional approaches: Kraepelin’s dichotomy and beyond.  Eur Arch Clin Neurosci. 2008;  258 (Suppl 2) 48-73
  • 4 Klosterkötter J. The clinical staging and the endophenotype approach as an integrative future perspective for psychiatry.  World Psychiatry. 2008;  7 (3) 159-160

Prof. Dr. J. Klosterkötter

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