PiD - Psychotherapie im Dialog 2011; 12(4): 367-369
DOI: 10.1055/s-0031-1276965
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Traumatherapie auf Augenhöhe aus behutsam beidäugigem Blickwinkel

Tilman  Rentel
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Publication Date:
13 December 2011 (online)

[Luise Reddemann]: Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual“.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, vollständig überarbeitete Neuauflage.

Mit der vorliegenden vollständig überarbeiteten sechsten Auflage des seit Jahren erfolgreichen PITT-Manuals zur psychodynamisch begründeten imaginativen Traumatherapie lässt Frau Reddemann insbesondere ihre intensive Auseinandersetzung mit den Themen der Resilienzforschung und der Positiven Psychologie in ihre Darstellungen einfließen.

Die Idee der jedem Menschen innewohnenden Widerstands- und Selbstheilungskräfte sowie das Vertrauen darauf und deren therapeutische Nutzung bildeten schon bisher die Grundlage ihrer Arbeitsweise und Haltung. In der Neuauflage finden sich nun hierzu teils eingewoben in den bisherigen Text teils durch neue Kapitel zahlreiche deutliche Ausführungen und „Ausrufezeichen“ zu ihrem Anliegen eines behutsamen respektvollen therapeutischen Vorgehens, das die Einzigartigkeit und Würde der Patientinnen und Patienten schätzt und schützt.

Aus der Sicht eines im stationären Kontext mit komplex traumatisierten Menschen arbeitenden Praktikers ist es mir ein Anliegen, eben diese noch deutlichere Gewichtung in Richtung gemeinsamer transparenter Arbeit auf „Augenhöhe“, das heißt unter Wahrnehmung und Nutzung der jeweils vorhandenen Kompetenzen auf therapeutischer und Patientenseite, zu unterstreichen und die Lektüre dieser Neuauflage jedem ans Herz zu legen, der im beruflichen Alltag mit Menschen umgeht, die an den komplexen Folgen traumatischer Lebensereignisse leiden. Die Autorin betont, dass PITT eine Zusatz-Qualifikation darstellt für TherapeutInnen mit abgeschlossener therapeutischer Ausbildung, dabei sollten hierbei unbedingt beide Augen offen gehalten werden, um (durch das von Peter Fürstenau geprägte sogenannte „beidäugige Sehen“) sowohl Einschränkungen, Leiden und Defizite als auch die Stärken, Ressourcen und die (Über-)Lebenskunst der Patientinnen und Patienten zu erkennen.

Die Einleitung der aktuellen Ausgabe des PITT-Manuals wurde umfangreich ergänzt um spezifische Inhalte der Resilienzforschung und der positiven Psychotherapie. Danach gliedert sie sich angelehnt an das zugrunde liegende Phasenmodell in folgende Kapitel: der Beginn der Behandlung mit dem Beziehungsaufbau bzw. der -gestaltung, die Phase der Ichstärkung oder „Stabilisierungsphase“, die Phase der Traumakonfrontation sowie die Integrationsphase. Hervorgehoben wird von der Autorin, dass diese Phasen in der Behandlung nicht starr chronologisch aufeinanderfolgen müssen, sondern sehr wohl eine flexible Orientierung am gemeinsam gestalteten Therapieprozess unter Einbeziehung der Signale und Aussagen der Patienten wünschenswert ist. Allerdings sollte mit der Ich-Stärkung, d. h. mit bewältigungsorientierten, traumakompensatorischen, an Ressourcen orientierten Themen begonnen werden, bevor sich den belastenden Traumaschemata zugewandt wird. Diese Priorisierung der ich-stärkenden Arbeit wird auch durch den wesentlich größeren Umfang der Kapitel zu diesen Themen im Vergleich zu dem Kapitel Traumakonfrontation deutlich. Das Manual schließt mit Kapiteln zur Psychohygiene und Selbstfürsorge für Therapeuten, zur Behandlung spezifischer Probleme (Krisenintervention, hoch dissoziative Patientinnen und Patienten, Sucht, Suizidalität, Paarbehandlung, Opfer von Folter, Krieg und Vertreibung, Täterbehandlung) sowie einem Kapitel zu genderspezifischen Gesichtspunkten und zu Gesichtspunkten stationärer Behandlung.

Es gelingt der Autorin wie auch in den vorausgegangenen Ausgaben ein sehr gut lesbares Buch vorzustellen. Der Haupttext ist im lebendigen Erzählstil geschrieben, der einen auch in den Vorträgen und Fortbildungen wach und interessiert über viele Stunden zuhören lässt. Immer wieder werden wertvolle Literaturhinweise bereitgestellt, die die Verbindung der Praxis mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung ermöglichen. Mit großer Liebe zur Kunst bringt die Autorin in vorangestellten Gedichten oder Hinweisen auf Musikstücke nicht nur anregende Impulse zum Thema der jeweiligen Kapitel zum Ausdruck, sondern gibt damit ein modellhaftes Beispiel, diese oft von Patientinnen und Patienten am Rande erwähnten Vorlieben und Beschäftigungen auch bei ihnen wahrzunehmen und den gebührenden Raum in der Therapie zu geben.

Wichtige Schritte der psychodynamisch imaginativen Traumatherapie werden auf verschiedenen Ebenen verdeutlicht und damit plastisch vorstellbar und nachvollziehbar. Fallbeispiele illustrieren die Umsetzung in der Praxis, wichtige Aussagen werden hervorgehoben und am Ende ermöglichen stichpunktartige Zusammenfassungen der wichtigsten Elemente einen schnellen Überblick. Zur Vertiefung des Verständnisses werden am Ende der Kapitel häufige Fragen von Seminarteilnehmern exemplarisch beantwortet und damit bekommen die Leser für viele Schwierigkeiten der Umsetzung in den eigenen therapeutischen Alltag sehr konkrete Hilfestellungen.

Mit einer kleinen Auswahl für mich persönlich wichtiger Aussagen möchte ich kurze Einblicke in die von der Autorin beschriebenen Haltung und Arbeitsweise der PITT geben und versuchen darzulegen, warum dieses Buch für jeden zur Pflichtlektüre gehören sollte, der mit traumatisierten Menschen arbeitet.

Mit der Darstellung wichtiger Definitionen, Inhalte und Forschungsergebnisse zum Thema „Positive Psychologie“ lädt die Autorin ein, bisherige defizitorientierte Paradigmen und Rollenvorstellungen der PatientInnen als Träger von Störungen und der TherapeutInnen als Retter zu überdenken. Die Aufgabe von Therapeuten, die sich als „Förderer“ und „Ermöglicher“ im Sinne eines von Reddemann mit dem englischen Begriff „facilitator“ beschriebenen Rollenbildes verstehen, könne so das gezielte Erforschen der schon vorhandenen und latenten Stärken und Fähigkeiten des Patienten sein, ergänzt durch neue Erfahrungen von Sicherheit und Verlässlichkeit in der therapeutischen Beziehung. So könne Therapie „statt einer Übung in Kolonialisierung eine der Entdeckung“ werden.

Die Betonung von Resilienz und Ressourcen darf laut Reddemann jedoch auf keinen Fall missverstanden werden als einseitige und schon gar nicht von außen verordnete „rosa Brille“, durch die nur das Positive gesehen werden soll, sondern diese Betonung soll nur eine möglicherweise bisher bestehende Vernachlässigung dieser Themen in der Therapie soweit ausbalancieren, dass den Patientinnen und Patienten wieder mehr Bewegungsspielraum und „pendelnde“ Schwingungsfähigkeit zwischen den Wechselfällen des Lebens mit den dazugehörigen Gefühlen von Leid und Freude möglich wird.

Reddemann möchte mit ihrem Manual ermutigen, zusammen mit den Patientinnen und Patienten kreative Wege zu erfinden, um so nicht nur ihr Selbstbewusstsein, sondern auch ihre Wirkmächtigkeit zu stärken. Dazu gehöre unbedingt auch die Nutzung ihrer bisherigen Strategien. Überhaupt basiere das gesamte Konzept der PITT im Grunde genommen auf dem Verstehen und der bewussten Nutzung der bis dahin oft unbewusst angewendeten traumakompensatorischen Strategien (z. B. der Dissoziation oder der lebhaften Imagination mit dem begleitenden Körpererleben) der Patientin. Dies geschehe bewusst und innerhalb einer vertrauensvollen, Halt und Sicherheit vermittelnden Beziehung, die gleichzeitig ein Höchstmaß an Autonomie und damit Kontrolle gewähre. So werde ein Rahmen zur Verfügung gestellt, innerhalb dessen die erwachsene Patientin lernen könne, ihre jüngeren verletzten und evtl. auch verletzenden Anteile positiv-validierend „nachzubeeltern“. Hier dürften die Therapeuten ruhig einmal als Modell einen Schritt vorausgehen, ihre freundlich-respektierenden Fähigkeiten quasi „ausleihen“, um der erwachsenen Patientin dann die Selbst-Fürsorge und damit Selbst-Wirksamkeit in die eigenen Hände zu übergeben.

Die Wirksamkeit dieser Haltung leuchtet m. E. ein, wenn man sich die Wichtigkeit der Erfüllung der z. B. bei Grawe beschriebenen dem Überleben dienenden Grundbedürfnisse nach Bindung, Kontrolle und Orientierung, Selbstwerterhöhung bzw. Selbstwertschutz sowie Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung für die seelische Gesundheit eines Menschen vor Augen hält. Diese blieben meist während der traumatischen Ereignisse allesamt unerfüllt, d. h. die Patientin war allein, hilflos und ohnmächtig der schmerzhaften Verletzung ihres Selbstwerts und ihrer körperlichen Integrität bis hin zur Todesangst ausgeliefert. Genau deswegen muss eine wie auch immer mit den PatientInnen zusammen „erfundene“ Therapie, wie sie in der PITT angeregt wird, von Beginn an gemeinsam, mit transparenter aktiver Unterstützung durch die Therapeutin und Ermächtigung der PatientInnen zur Gestaltung und Steuerung, Ich-stärkend und Selbstwert steigernd, so behutsam wie möglich zusätzlichen Schaden vermeidend sowie positive Wahrnehmungen und Erfahrungen ermöglichend durchgeführt werden. Wie anders als durch ein modellhaftes Vorleben dieser Prinzipien im Außenraum der therapeutischen Beziehung kann den erwachsenen Patientinnen und Patienten glaubhaft vermittelt werden, dass diese mit ihren verschiedenen inneren Persönlichkeitsanteilen wertschätzend und respektvoll umgehen können.

Aus der klinischen Arbeit nur allzu vertraut ist trotz bester Absichten und umsichtigen Vorgehens das Scheitern der therapeutischen Bemühungen. Hier finde ich die Ausführungen zu den Grenzen der Machbarkeit im Sinne eines Resilienzverständnisses, welches die Fähigkeit einschließt mit unbeantwortbaren Fragen zu leben und unvollkommene sowie unlösbare Situationen zu akzeptieren, sehr hilfreich. Tröstlich und auch Orientierung gebend finde ich dies z. B. im Zusammenhang mit den oft schwer auszuhaltenden Verstrickungen in Familien mit innerfamiliärem Missbrauch, wo ich in der neuen Ausgabe des PITT-Manuals trotz klarer Grenzziehungen, v. a. was z. B. Täterkontakt und Traumakonfrontation angeht, durch diese Gedanken etwas mehr Entlastung in unlösbaren Situationen erlebe und dadurch vielleicht weniger unter einen oft unguten Druck gerate, doch etwas tun zu müssen mit der Gefahr, Situationen zusätzlich zu verschärfen. Reddemann ermutigt hier m. E. im Sinne Rilkes, „die Fragen selber lieb zu haben, um eines fernen Tages in die Antworten hineinzuleben“ und dabei dem Patienten beizustehen, was schwer genug ist, wenn statt Heilung und Linderung oft nur der Trost bleibt.

Anrührend und erfüllend in der Arbeit mit PatientInnen und ihren verletzten kindlichen Anteilen sind für mich immer wieder die faszinierenden Bilder, die in Dialogen entstehen, bei denen es ausgehend von aktuellen Symptomen zunächst um das „Anschauen“ der kindlichen Anteile geht, dann um die vorsichtige Kontaktaufnahme und später um die liebevolle Versorgung und Tröstung. So tragen diese einfachen Schritte und offenen ressourcenorientierten Fragen, wie so ein Kind denn ausschaue und was es im Moment brauchen könnte, dazu bei, dass sich der Reichtum der inneren Weisheit entfalten kann und PatientIn wie TherapeutIn das Staunen im positiven Sinne lehrt. Kommentare von Patientinnen sind z. B., sie hätten gar nicht gewusst, dass sie so kreativ seien und ihnen so etwas einfallen würde, aber es mache einen großen Unterschied, denn es ermögliche ihnen, sich selbst zu beruhigen. Trost, Verständnis und Mitgefühl, betont Reddemann, seien in jeder Phase der Therapie etwas, ohne das Veränderung nicht denkbar ist.

Die herausfordernde Arbeit mit den verletzenden Persönlichkeitsanteilen, die sich in der therapeutischen Arbeit mit sabotierenden Kommentaren wie „es darf mir gar nicht gut gehen“ oder „du verdienst es nicht zu leben“ einbringen, wird durch die Anleitungen des PITT-Manuals zur imaginativen Arbeit sehr erleichtert. Bei der Begleitung des inneren Dialogs der Erwachsenen mit ihren verletzenden Anteilen ist die Klarheit, dass Verständnis für die Motive eines solchen Anteils nicht gleichermaßen Einverständnis mit dessen Handlungsstrategien bedeuten muss, eine oft entscheidende Hilfe, um der erwachsenen Patientin sowohl mehr Selbst-Bewusstsein im Sinne von Selbstverständnis als auch neue Ver-Handlungsoptionen zu ermöglichen. Das wichtigste und gemeinsame bei beiden von Reddemann vorgeschlagenen Wegen (nach dem Ego-state-Modell bzw. nach dem Drachentötermodell) scheint vor jeder Verhandlung und Veränderung auf der Handlungsebene dieses Gewahrwerden der „guten Gründe“ der verletzenden Anteile auf der Bedürfnisebene bzw. beim Drachentötermodell das Bergen des „Schatzes“ dieser Anteile zu sein.

Als wichtige Voraussetzungen für jede Art von Traumakonfrontation fordert die Autorin Sicherheit im realen Außenraum der Patientin, in der Beziehung zum Therapeuten sowie im Innenraum im Sinne einer ausreichenden Distanzierungs- und Steuerungsmöglichkeit oder metaphorisch beschrieben solle man, bevor man losfahre, um bedrohliche Gegenden zu erkunden, wissen, wer neben einem sitze, sowie bremsen und steuern können. Die Übersichtlichkeit und Klarheit des Konzepts der Traumakonfrontation mithilfe der Beobachtertechnik und des BASK-Modells (behavior, affect, sensation, knowledge) hat m. E. den großen Vorteil, dass die im stationären Kontext oft in den verschiedenen Therapieangeboten fraktioniert ablaufenden Prozesse so behutsam eingeordnet, zusammen verstanden und gezielt unterstützt werden können. Ambulant bietet sie ein hohes Maß an Schutz und Steuerungsfähigkeit beim Umgang mit potenziell überwältigenden Erinnerungen.

Bezüglich des Umgangs mit dissoziativen Zuständen legt die Autorin inzwischen den Schwerpunkt weniger auf Techniken des reinen Dissoziationsstopps, sondern empfiehlt die Kontaktaufnahme und Versorgung derjenigen (meist) traumatisierten Anteile, die im dissoziativen Zustand ihren Ausdruck finden.

Eine Stärke des Buches liegt darin, dass es nicht nur die rationalen Ebenen des Verstehens anspricht, sondern dass sowohl die Leichtigkeit und Resonanzwirkung der im Buch beschriebenen Methode beim Lesen spürbar wird als auch die Leser eingeladen werden, der damit verbundenen respektvollen und wertschätzenden Haltung sich selbst und den PatientInnen gegenüber nachzuspüren. Man fühlt sich als Leser auf Augenhöhe angesprochen und angeregt mit zwei offenen Augen neue Blickwinkel zu entdecken.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch zu den möglichen Zielen einer Behandlung.

„Was wir anstreben können ist, dass wir eine sichere Beziehungserfahrung ermöglichen, sodass aufgrund der gemeinsamen Arbeit traumatische Erfahrungen nicht mehr so quälen und ein Leben damit möglich erscheint; dass die traumatischen Erfahrungen mit Emotionen erinnert werden können, ohne dass man sich davon überwältigt fühlt, und dass sich dadurch der traumatische Stress zurückbilden kann“ (PITT – Das Manual, S. 37).

Auf diesem Weg gibt das vorliegende Buch wertvolle Orientierung und ist ein hervorragender Reisebegleiter, nicht zuletzt weil es ermutigt, den „Navigationsfähigkeiten“ der PatientInnen wieder mehr zu vertrauen.

Literatur

  • 1 Reddemann L. Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual.. Stuttgart: Klett-Cotta; 2011. vollständig überarbeitete Neuauflage.

Dr. Tilman Rentel

Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
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