Aktuelle Rheumatologie 2011; 36(3): 155-156
DOI: 10.1055/s-0031-1280752
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hat die Physikalische Medizin in der modernen Rheumatologie noch eine Berechtigung?

Does Physical Medicine still play a Role in Modern Rheumatology?C. Gutenbrunner
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Publication Date:
21 June 2011 (online)

C. Gutenbrunner

Die medikamentöse rheumatologische Therapie hat sich in den zurückliegenden 10 Jahren dramatisch verändert. Durch eine effektive Hemmung überschießender Immunaktivität kann die Gelenkdestruktion beispielsweise bei der Rheumatoiden Arthritis wirksam unterdrückt werden. Auch analgetische Therapien sind effektiver und gleichzeitig nebenwirkungsärmer geworden. Diese Situation muss zwangsläufig zu einem Überdenken der gesamten (multimodalen) Therapiestrategie führen und beeinflusst auch den Stellenwert physikalischer und balneologischer Therapieansätze sowie den Rehabilitationsbedarf. Dabei ist es in der Medizingeschichte häufig vorgekommen, dass neue Therapieoptionen ältere Therapiekonzepte überholt und weitgehend überflüssig gemacht haben. Beispiele hierfür sind die balneologische Therapie der arteriellen Hypertonie nach Einführung effektiver Antihypertensiva oder die Trinkkurbehandlung der Gastritis nach Entdeckung des Helikobacter pylori. Dennoch sind grundlegende physikalische und balneologische Therapieprinzipen auch hier weiter von Bedeutung, wie z. B. das Ausdauerleistungstraining in der frühen Phase der essentiellen Hypertonie oder vegetativ äquilibrierende Therapien bei funktionellen nicht bakteriell bedingten Oberbauchbeschwerden.

Es stellt sich daher die Frage, welche Beschwerden funktioneller Probleme bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen trotz wirksamer antientzündlicher und analgetischer Therapie bestehen bleiben, und ob es hierfür wirksame physikalische Therapieoptionen gibt. Die Beantwortung dieser Frage hängt auch von der Definition bzw. des Selbstverständnisses der Rheumatologie ab. Sie beschränkt sich nach weit verbreiteter Ansicht nicht auf die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen alleine, sondern schließt auch die Diagnostik und Therapie funktioneller und degenerativer Erkrankungen sowie einiger Stoffwechselerkrankungen mit ein, wobei hier Überschneiungen mit Nachbarfachgebieten wie der Orthopädie und der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin bestehen. Allein diese breitere Definition der Rheumatologie macht klar, dass neben einer (kausalen) antientzündlichen Therapie auch weiterhin funktionelle Therapieansätze in der rheumatologischen Praxis eine Rolle spielen müssen. Aber auch bei effektiv antiinflammatorisch behandelten entzündlichen Erkrankungen ist, z. B. durch wieder auftretende Schmerzphasen mit funktionellen Problemen zu rechnen, wenngleich die früher häufigen massiven Gelenkdestruktionen heute kaum noch beobachtet werden.

Zahlreiche physikalische Therapieansätze früherer Jahre und Jahrzehnte haben die antientzündlichen und analgetischen Effekte betont. Dies gilt beispielsweise für die Gruppe der Thermotherapie aber auch für die Elektro- und Ultraschallbehandlung, zwei Therapieansätzen, die in der Physikalischen Medizin früherer Jahrzehnte einen breiten Raum eingenommen haben. Die Bedeutung dieser Wirkprinzipien ist durch die Fortschritte deutlich in den Hintergrund getreten, wobei sie in bestimmten Situationen auch heute noch eine Berechtigung haben, so z. B. die Kryotherapie in Phasen akut entzündeter Gelenke sowie die TENS-Therapie bei regionalen oder radikulären Schmerzzuständen.

Andere Therapieprinzipen der Physikalischen Medizin haben aber gleichzeitig auch unterstützt durch moderne Forschungsergebnisse in der Rheumatologie an Bedeutung gewonnen. Eindrucksvolles Beispiel hierfür ist z. B. die medizinische Trainingstherapie mit ihren vielfältigen Wirkungen nicht nur in Bezug auf Muskelkraft und –ausdauer, sondern auch in ihrer nachweisbaren Wirkung auf die Knochendichte bei Osteoporose, die Schmerzintensität bei Fibromyalgiesyndrom und koordinative Fehlsteuerungen bei chronischen Wirbelsäulensyndromen. Dabei ist die Aufklärung der zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen durchaus noch nicht befriedigend weit fortgeschritten, aber immerhin konnten in den letzten Jahren bereits einige Wirkungen auf relevante Mediatoren beispielsweise der Schmerzentstehung oder der Adaptation von Knochen- und Knorpelgewebe nachgewiesen werden. Weitere Bereiche sind die frühzeitige funktionelle Behandlung von Störungen von Muskel-Gelenk-Einheiten durch manualmedizinische Interventionen und die Beseitigung habitueller Fehlbelastungen beispielsweise durch ergotherapeutische Maßnahmen. Einige dieser Therapieansätze ist mittlerweise in klinischen Studien untersucht worden, wobei die Studienlage z. B. zur manuellen Therapie heute noch nicht eindeutig ist.

Somit kann in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden, dass die Zahl kontrollierter klinischer Studien in diesen Bereichen noch zu niedrig ist und Metaanlysen in vielen Bereichen bisher nicht durchgeführt werden konnten. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt sicher in Defiziten der Forschungsfinanzierung in diesem Bereich, der keine größeren Industrieunternehmen hinter sich weiß. Auch ist die Standardisierung der Therapien hier wesentlich schwieriger als in der Pharmakologie, das die meisten Therapien von Therapeutinnen und Therapeuten erbracht werden, die auch bei standardisierter Ausbildung die Therapie individuell ausführen und (sinnvoller Weise) an den augenblicklichen Funktionszustand der Patientinnen und Patienten anpassen. Aus diesen Gründen wird die Diskussion über geeignete Standardisierungen aber auch über die Adaptation von Studiendesigns an die gegebene Problematik (z. B. die sogenannten naturalistischen Studien) offensiv weiter zu führen sein. Auch müssen neutrale industrieunabhängige Förderinstitutionen verstärkt in die Forschungsverantwortung mit einbezogen werden.

Last but not least, muss an dieser Stelle auf die Bedeutung physikalisch-medizinischer Therapieansätze in der Rehabilitation hingewiesen werden, wobei vor allem bei chronischen funktionellen Erkrankungen der Bewegungsorgane, wie z. B. beim chronischen Rückenschmerz hohe Evidenzen für die Wirksamkeit solch intensiver multimodaler Rehabilitationsverfahren besteht. Eine Diskussion dieses Bereichs würde allerdings den Rahmen diese Editorials aber auch des Themenheftes sprengen.

Der nunmehr vorliegende zweite Teil des Themenschwerpunktes „Physikalische Medizin” befasst sich mit der Elektro- und Ultraschalltherapie, der Ergotherapie sowie der Balneotherapie, wobei in dem zuletzt genannten Bereich für manchen überraschend die Evidenzlage durchaus nicht schlechter ist als in anderen Bereichen der physikalischen Medizin.

Insgesamt kann die einleitende Frage nach der Berechtigung der physikalischen Medizin in der Rheumatologie also mit Ja beantwortet werden, wobei gleichzeitig festgestellt werden muss, dass sich sowohl die Behandlungsschwerpunkte und Therapieansätze verändern als auch die Forschungsanstrengungen auf dem Gebiet verstärkt werden müssen.

Hannover, im Mai 2011

Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner

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Prof. Dr. med. Christoph Gutenbrunner

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