Z Sex Forsch 2012; 25(1): 66-69
DOI: 10.1055/s-0031-1283942
DEBATTE

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Hätte er geschwiegen, wäre er Philosoph geblieben

Eine Replik auf den Beitrag von Volkmar Sigusch: „Kritik evolutionspsychologischer Sexualforschung“Reinhard Maß
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Publication Date:
19 March 2012 (online)

Die über Jahrzehnte erworbenen Verdienste von Sigusch um die Sexualforschung sind vielfältig und unbestritten und wurden anderenorts gewürdigt. Doch mit dem o. g. Beitrag, in dem er sich zu dem von mir herausgegebenen ZfS-Themenheft „Evolutionspsychologie der Sexualität“ äußert, hat er seinen Ruhm nicht gemehrt. 

Es ist bedauerlich, wenn jemand sich zu einem Diskussionsbeitrag zu einem ihm fremden Thema berufen fühlt, ohne das fragliche Themenheft zu lesen. Und offensichtlich hat Sigusch außer meinem Editorial nichts davon gelesen. Zwar zitiert er seine eigenen früheren Arbeiten sehr ausführlich, nur haben diese leider mit der Sache nichts zu tun. Seine Kenntnisse der Evolutionspsychologie hingegen scheinen eher von „Experten“ wie Mario Barth zu stammen. Denn schlichte Annahmen, „… denen zufolge Männer promiske Frauenbefruchter sind, Frauen sich dagegen genetisch nach Monogamie sehnen …“ (Sigusch 2011: 280), sind aus der evolutionspsychologischen Literatur sicher nicht zu belegen, das menschliche Sexualsystem ist wesentlich komplexer (vgl. Buss 2004). Sigusch hätte aus dem Themenheft wohl einiges lernen können, denn es enthält vier wirklich hochklassige Übersichtsarbeiten; möglicherweise wäre sein Diskussionsbeitrag dann gehaltvoller ausgefallen. Aber so hat er nur Polemik und Ideologie produziert (und selbst das auf eine in vielerlei Hinsicht nicht originelle Weise; vgl. Dawkins 1985). 

Ich greife exemplarisch die Anmerkungen von Sigusch zu einem zentralen Gegenstand der evolutionspsychologischen Sexualforschung heraus, welcher auch prominent in den Beiträgen des Themenheftes behandelt wird, nämlich dem folgenreichen Geschlechterunterschied, dass Frauen schwanger werden, Männer nicht. Ein daraus resultierendes Problem ist das der Vaterschaftsungewissheit, ein anderes ist das der unterschiedlichen elterlichen Investition. Für Sigusch scheinen sich die damit verbundenen Forschungsfragen zu erübrigen, weil das Zusammenpassen der Geschlechtsorgane keine Garantie für sexuelle Anziehung von Mann und Frau ist (ich vermute, dass hier Homosexualität gemeint ist), weil sowieso zunehmend weniger Menschen wissen, welchen Geschlechts sie sind, und weil es inzwischen die künstliche Befruchtung gibt (Sigusch 2011: 284). Leider wurde hier das Thema verfehlt, und zwar gleich dreifach: (1) Das Phänomen der Homosexualität weist auf die triviale Tatsache hin, dass Sexualität mehr Funktionen hat als allein die Reproduktion, was selbstverständlich nicht heißt, dass die Reproduktion ein unwichtiger Aspekt ist, (2) Unklarheiten bezüglich der eigenen Geschlechtsidentität sind seltene Ausnahmen von der grundsätzlichen Regel der Zweigeschlechtlichkeit (welche weder eine verrückte Idee der Evolutionspsychologie noch ein Unterdrückungsinstrument der Herrschenden ist) und können somit nicht verallgemeinert werden, und (3) selbst, wenn inzwischen Kinder ausschließlich durch künstliche Befruchtung gezeugt würden, so hätte diese neuzeitliche Erfindung keinen Einfluss auf die angeborenen Verhaltenstendenzen, mit denen sich die Evolutionspsychologie befasst. 

Daher tun auch all die anderen Beispiele moderner wissenschaftlich-technischer Entwicklungen wie künstliche Elemente, Klonen, Bionik und so weiter, die Sigusch (2011: 284 ff.) aufzählt, nichts zur Sache. Der Mensch entwickelt die Fähigkeit, sein eigenes Erbgut gezielt zu manipulieren; dadurch werden die bisher wirkenden evolutionären Entwicklungsbedingungen fundamental geändert. Niemand kann vorhersagen, wohin das führen wird und welche Gesellschaftsformen daraus resultieren. Ich halte es für wichtig und verdienstvoll, sich über die Implikationen und Konsequenzen dieser Veränderungen Gedanken zu machen. Aber warum sollten die Theorien, Hypothesen und empirischen Befunde der Evolutionspsychologie dadurch in Frage gestellt werden? Diese basieren auf der Annahme, dass unser angeborenes Repertoire an Verhaltens- und Erlebensmustern durch einen über viele Jahrtausende währenden Prozess der natürlichen bzw. sexuellen Selektion geformt wurde, wie jedes andere unserer erblichen Merkmale. Und eben dieses Erbe wird von der Evolutionspsychologie untersucht. Die ebenso zutreffende wie triviale Feststellung, dass Emotionen nicht versteinern können, ist ohne Belang. 

Mehrfach stellt Sigusch (2011) „vielsagende“ Andeutungen in den Raum, ohne diese zu konkretisieren oder gar zu belegen. Was heißt es denn nun, wenn Männer und Frauen, die sich mit Evolutionspsychologie befassen – Sigusch verwendet für diesen Personenkreis den Begriff „Steinzeitpsychologen“ – „… über biotische Vorgänge wie Mitglieder einer kapitalistischen Gesellschaft sprechen (beispielsweise ist die Rede von „reproduktiver Investition“ und „elterlichem Investment“) …“ (ebd.: 280)? Meint Sigusch, dass sie Erfüllungsgehilfen der herrschenden Klasse sind, dass sie aus Naivität oder Perfidie unter dem Deckmantel von Wissenschaft die Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse betreiben? An dieser Stelle muss ich gestehen: Ich bin tatsächlich Mitglied einer kapitalistischen Gesellschaft. Für einen Deutschen wie mich ist das kein ungewöhnlicher Umstand. Wenn ich mich nicht irre, gilt es auch für Sigusch selbst und den Rest der DGfS. Gleichwohl kann ich mich in seinen vagen Andeutungen nicht wiederfinden; auch die Rechtfertigung menschenfeindlicher medizinischer Eingriffe (Sigusch 2011: 283) gehört nicht zu meinen primären Interessen. 

Schwer nachvollziehbar bis zur Unverständlichkeit wirken die Ausführungen von Sigusch zur Homosexualität (2011: 289). Im Themenheft zur „Evolutionspsychologie der Sexualität“ spielt Homosexualität keine Rolle. Generell hat sich die Evolutionspsychologie mit dieser Erscheinung bislang nicht sehr intensiv auseinandergesetzt. Sigusch scheint dennoch zu befürchten, dass es ein Anliegen der EvolutionspsychologInnen ist, Homosexualität als genetisch vererbte oder hormonell bedingte Krankheit zu definieren, um damit einer neuen Schwulenhatz Vorschub zu leisten und letztendlich „… Homosexualität mit medizinischen Mitteln zu bekämpfen …“ (ebd.: 289). Dieses an den Haaren herbeigezogene, konstruierte Feindbild hat mit der Realität nichts zu tun. Ein evolutionspsychologischer Forschungsansatz zur Untersuchung der Homosexualität würde sich einfach mit deren proximaten vs. ultimaten Ursachen nach Tinbergen (1951) befassen und nach dem Anpassungswert von Homosexualität suchen. Rosa Winkel würden dabei nicht verteilt werden. 

Sigusch hat mit seinem Beitrag deutlich gemacht, dass er keine Diskussion über Evolutionspsychologie wünscht. Er ist an diesem Thema nicht interessiert; das ist sein gutes Recht. Darüber hinaus will er jedoch nicht, dass sich überhaupt irgendjemand mit Evolutionspsychologie befasst, er dämonisiert diesen Wissenschaftszweig regelrecht. Für sich selbst beansprucht er die alleinige Fähigkeit zur Weltdeutung. Andere Meinungen können für ihn nur die Folge von Begriffsstutzigkeit oder niederen Motiven sein. Das, was er der Evolutionspsychologie unterstellt – zum Beispiel, andere Psychologien „… auf die Müllhalde der Wissenschaftsgeschichte …“ (Sigusch 2011: 290) werfen zu wollen –, praktiziert er mit missionarischem Eifer selbst und verleugnet dieses zugleich. 

Das alles bringt uns nicht weiter. Eine fachliche Diskussion, an der ich interessiert bin, setzt das Respektieren der Gegenseite, die Bereitschaft, sich mit deren Argumenten auseinanderzusetzen und die Fähigkeit, sich auf Augenhöhe zu begegnen, voraus. Das alles hat Sigusch, zumindest, wenn es um die Evolutionspsychologie geht, offenkundig nicht zu bieten. Glücklicherweise ist seine Meinung hier nicht maßgeblich, er spricht nicht für die DGfS. Außer seinem Kommentar habe ich ansonsten ausschließlich positive Rückmeldungen zu dem Themenheft bekommen. Ich freue mich jedenfalls darüber, dass das spannende und fruchtbare Forschungsfeld der Evolutionspsychologie in Deutschland – und vielleicht auch in unserer Fachgesellschaft – auf wachsendes Interesse stößt. 

Literatur

  • 1 Buss D M. Evolutionäre Psychologie.. 2. aktualisierte Auflage. München: Pearson; 2004
  • 2 Dawkins R. Sociobiology: The Debate Continues.. Review of “Not in Our Genes: Biology, Ideology and Human Nature” by Steven Rose, Leon J Kamin and RC Lewontin.. (Pantheon Books).; New Scientist, 24. Januar; 1985
  • 3 Sigusch V. Kritik evolutionspsychologischer Sexualforschung.  Z Sexualforsch. 2011;  24 279-291
  • 4 Tinbergen N. The Study of Instinct.. Oxford: Clarendon Press; 1951

Prof. Dr. Reinhard Maß

Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide

Leppestraße 65–67

51709 Marienheide

Email: reinhard.mass@kkh-gummersbach.de

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