Suchttherapie 2011; 12 - PO54
DOI: 10.1055/s-0031-1284703

Dysfunktionale Stressverarbeitung bei Internetsucht: Ergebnisse aus Psychologie und Neurowissenschaft

K Wölfling 1
  • 1Ambulanz für Spielsucht, Klinik für Psychosomatische Medizin, Universitätsmedizin Mainz, Mainz

Fallzahlen aus dem deutschen Suchthilfesystem verdeutlichen, dass vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene mit exzessivem bis suchtartigem Internetnutzungsverhalten therapeutische Hilfe suchen. Verschiedene internationale Studien beziffern die Auftretenshäufigkeit des Symptomkomplexes Internetsucht zwischen 0,5 und 3% in der Allgemeinbevölkerung. Betroffene berichten dabei von Symptomen, die Parallelen zu substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen erkennen lassen, wie z.B. intensives Verlangen, das Verhalten auszuüben (Craving), progrediente Internetnutzung trotz offensichtlicher negativer Konsequenzen (Leistungsabfall, soziale Isolation und gesundheitliche Probleme), Entzugserscheinungen bei verhindertem Konsum und Toleranzentwicklung (zunehmend exzessiv ausufernde Nutzungszeiten). Auf neurowissenschaftlicher Ebene konnten ähnliche kortikale Verarbeitungsmuster, wie sie von substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen (z.B. der Alkoholabhängigkeit) bekannt sind, nachgewiesen werden. So lassen u.a. experimentelle Befunde aus eigenen Studien darauf schließen, dass überdauernd exzessives Internetnutzungsverhalten als Variante der substanzungebundenen Abhängigkeitserkrankungen aufgefasst werden kann: In einem EEG-Experiment konnte unter Verwendung des Reiz-Reaktions-Paradigmas gezeigt werden, dass computerspielsüchtige Probanden im Vergleich zu Gelegenheitsspielern computerspielassoziierte Bilder auf der kortikalen Ebene emotional tiefer verarbeiteten. Diese spezifische Salienz von suchtmittelassoziierten Stimuli kann im Sinne einer Anreizhervorhebung, wie sie z.B. bei der Alkoholabhängigkeit nachgewiesen ist, interpretiert werden. Ebenso werden in der internationalen Literatur Zusammenhänge zwischen Entstehung und Aufrechterhaltung von Internetsucht und einer erhöhten Stressvulnerabilität bzw. dem Einsatz dysfunktionaler Stressbewältigungsstrategien berichtet. Bei der Analyse von zahlenmäßig umfangreichen Stichproben aus dem Jugendalter zeigte sich, dass problematisch bis suchtartige Internetnutzer im Vergleich zu gesunden Jugendlichen signifikant häufiger von eher dysfunktionalen Copingstrategien, wie Aufgabe und Selbstvorwürfe Gebrauch machen. Gleichzeitig werden systematisch seltener funktionale und soziale Copingstrategien, wie Aktives Coping und die Suche nach emotionaler und instrumenteller Unterstützung eingesetzt. Auf der neuropsychologischen Ebene kann über die Verfahren „Iowa Gambling Task“ (IGT) und das Paradigma „Delay Discounting“ die Ausprägung von Impulsivität und Impulskontrolle getestet werden. Glücksspielsüchtige zeigten in der Vergangenheit sowohl eine erhöhte Risikobereitschaft, als auch einen steileren Wertverlust über Zeit und somit die Tendenz sofortige geringere Belohnung einer späteren höheren Belohnung vorzuziehen. Bei Patienten der Ambulanz für Spielsucht zeigten sich wie erwartet zunächst keine Unterschiede zwischen Computerspielsüchtigen und Glücksspielsüchtigen, allerdings für beide Patientengruppen eine leicht erhöhte Risikobereitschaft und schnellerer Wertverlust gegen Zeit im Vergleich zur Normpopulation.