Der Klinikarzt 2011; 40(06/07): 285
DOI: 10.1055/s-0031-1285131
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Behandlung des Menschen mit Typ-2-Diabetes im Spannungsfeld von Evidenz und Økonomie

Stephan Jacob
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Publikationsdatum:
20. Juli 2011 (online)

Bei immer jüngeren Menschen wird die Stoffwechselstörung Typ-2-Diabetes entdeckt. Das bedeutet für uns: Wir müssen unsere bisherigen Diagnostik- und Therapiestrategien überdenken, zumal die Forschung in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse bzgl. der Entstehung und des Verlaufes des Typ-2-Diabetes gewonnen hat. Das ”Jüngerwerden“ der Menschen mit Typ-2-Diabetes hat auch Auswirkungen auf das Management der Erkrankung, sind diese jüngeren Diabetiker doch meist noch voll im Berufsleben stehend. Sie brauchen Therapieformen, die die Arbeitsfähigkeit nicht beeinflussen und idealerweise auch den Krankheitsverlauf etwas verlangsamen. Doch für Letzteres gibt es derzeit nur Hinweise auf leichte Vorteile bestimmter pharmakologischer Ansätze. Umso größere Beachtung muss der Intensivierung der Lebenstil-Maßnahmen geschenkt werden: sowohl für die kausale Therapie aber auch für die noch wichtigere Prävention der Erkrankung.

Während die frühe Intervention und die intensive Einstellung der Risikofaktoren es schafft, die bisher drastisch erhöhte Sterblichkeit bei Menschen mit Diabetes mellitus deutlich zu reduzieren, erleben wir nun die ”Konsequenz“, dass die mikrovaskulären Schädigungen der Niere, der Nerven und des Auges deswegen ansteigen: denn die Menschen überleben den Infarkt und erleben nun diese mikrovaskulären Komplikationen – aber nicht nur die. Neuere Beobachtungen beschreiben eine erhöhte Rate an Karzinomen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Herr PD Dr. Karsten Müssig, Düsseldorf, erörtert den Zusammenhang ”Typ-2-Diabetes, Hyperinsulinämie und Krebsrisiko“. In seinem Artikel ”Missverständnisse in der Typ-2-Diabetologie und deren Folgen“ wirft Herr PD Dr. Morten Schütt aus Lübeck einen kritischen Blick auf die derzeitige Diagnostik und Therapie, plädiert für ein Umdenken und fordert auch mehr Unterstützung zur kontinuierlichen kausalen Therapie mit verbessertem Lebensstil.

Das Stichwort Hypoglykämie und Berufstätigkeit bzw. Autofahren ist ein für die Praxis enorm Bedeutsames, das im Alltag noch gelegentlich unterschätzt wird. Das kann böse Konsequenzen haben, wenn dann einmal z.B. ein hypogkykämiebedingter Unfall mit (Menschen-) Schaden passiert. In seinem Artikel ”Hypoglykämien unter antidiabetischer Therapie – Aufklärungspflicht des Arztes“ klärt uns Herr Prof. Dr. Dr. Alexander Ehlers, München, darüber auf, welche Faktoren bei einer Umstellung oder Neu-Einstellung eines Patienten mit Typ-2-Diabetes beachtet werden und welche Aufklärung des Patienten erfolgen müss(t)en.

Es erscheint schon ein wenig merkwürdig, wenn mit dem Argument ”fragwürdige Sicherheit und Nutzen“ ein Medikament wie Pioglitazon aus der Erstattung genommen wird, während die Sulfonylharnstoffe (SH) weiter nicht nur geduldet, sondern auch noch aktiv empfohlen werden, obwohl klar ist, dass diese Substanzen schneller zu einer Insulin-Bedürftigkeit führen, in allen neueren kontrollierten Studien mit erheblich höheren Hypoglykämieraten assoziiert sind, welche seit ACCORD, ADVANCE und VADT bei Typ-2-Diabetes eine besondere Bedeutung haben und obwohl in mehreren retrospektiven Analysen erhöhte Mortalitätsraten unter SH beschrieben werden. Diese Studien werden in der Øffentlichkeit kaum beachtet und diskutiert und schon gar nicht zum Anlass genommen, über die Anwendung und Erstattung dieser billigen Therapie nachzudenken. Würde man alle indirekten und direkten Kosten bedenken, die durch eine Therapie mit SH enstehen, inklusive Arbeitsunfähigkeit (da Fahrverbot über 3 Monate) bei Menschen, die beruflich Fahrzeuge führen (oder an laufenden Maschinen oder auf Gerüsten arbeiten), bei denen erst einmal eine hypoglykämie-freie Stoffwechseleinstellung nachgewiesen sein muss (s. Artikel Prof. Ehlers), die Kosten für die schnellere Therapie-Eskalation, inklusive der früheren Insulinisierung (mit Kosten für Schulung und Teststreifen und erneutem oder permanenten Fahrverbot), dann müsste man umdenken. Es drängt sich ein wenig die Befürchtung auf, dass hier nicht objektiv und zum Wohle der Menschen gedacht wird und dass evidenzbasierte Daten, die nicht so ganz in die Økonomie passen, auch nicht beachtet werden.

Wir sollten von allen Seiten, der Kostenträger, der Politik, der Patientenvertreter und der Ærzte in einem offenen Dialog bleiben, um den diabetes-assoziierten Herausforderungen der Zukunft und den Menschen mit Diabetes mellitus gerecht zu werden. Eine chronische Erkrankung wie die des Typ-2-Diabetes erfordert auch eine langfristige Betrachtung des Managements, der Interventionsstrategien und auch der direkten sowie der indirekten Kosten! Unter Einbindung der Erkenntnisse aus kontrollierten Studien UND der Versorgungsforschung! Eben – evidenz-basiert!

Das international mit Kopfschütteln und Unverständnis quittierte Vorgehen des G-BA, eine Substanz wie Pioglitazon aus der Erstattungsfähigkeit zu nehmen, ohne dass es von Seiten der Zulassungsbehörden, der FDA und EMEA, Anlass gab, wird aus kardiologischer (Prof. Dr. Christian Schneider) und juristischer Sicht (Prof. Dr. Dr. Alexander Ehlers) bewertet und in einem sehr provokativen Statement von den Herren Dr. Andreas Pfützner und Prof. Dr. Thomas Forst kommentiert.