Psychiatr Prax 2012; 39(01): 1-2
DOI: 10.1055/s-0031-1298835
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Krankenversorgung – Versorgungsplanung – Versorgungspolitik – Versorgungsforschung

Health-Care Provision − Health-Care Planning − Health-Care Politics − Health-Care Research
Christoph Lauber
Department of Psychiatry, University of Liverpool, United Kingdom
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Publication Date:
10 January 2012 (online)

Die medizinische und psychosoziale Betreuung, Pflege, Diagnose, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge von kranken Menschen durch Anbieter von Gesundheitsleistungen wird gemeinhin als Krankenversorgung und die daraus resultierende Forschung als Versorgungsforschung bezeichnet [1]. In einer idealen Versorgungswelt wird die Krankenversorgung durch Ergebnisse der Versorgungsforschung bestimmt oder zumindest unterstützt und die Gesundheitspolitik entscheidet aufgrund von Versorgungsplanung und Forschungsevidenz über Versorgungsmodelle.

Neue Versorgungsmodelle sind in der Psychiatrie von besonderer Bedeutung. In der Regel werden sie aus einem existierenden oder vermeintlichen (Versorgungs-)Bedarf heraus entwickelt und idealerweise, wenn implementiert, auf Effektivität und Kosteneffektivität hin geprüft. Als Beispiele werden immer wieder Studien, vornehmlich aus dem angelsächsischen Bereich, herangezogen, die Effektivität und Kosteneffektivität für neuartige Versorgungs- oder Behandlungsmodelle untersuchen. Gemeinsam ist den meisten dieser Untersuchungen, dass die neuen Behandlungsmodelle mit den lokalen gemeindepsychiatrischen Behandlungsteams (z. B. Community Mental Health Teams CMHT genannt) verglichen werden und meist über eine Beobachtungszeit von ein bis zwei Jahren berichten. Als Erfolgskriterien werden Parameter wie (Re-)Hospitalisierung, Hospitalisationsdauer, subjektives Wohlbefinden, Gesamtkosten etc. herangezogen.

Die Erwartung wäre also, dass die Ergebnisse dieser Studien im Alltag der Patientenversorgung abgebildet werden. Man darf jedoch mit Fug und Recht behaupten, dass unsere Versorgungslandschaft nicht immer die Evidenz widerspiegelt. Sie ist vielmehr der Kompromiss aus lokal Möglichem, politisch Machbarem, finanziell Tragbarem und von der Evidenz her Wünschbarem. Ein Beispiel dafür ist die Einführung von psychiatrischen Spezialistenteams in der Gesundheitsversorgung Englands im Jahre 2000. Trotz fehlender Evidenz wurden Früherkennungs- und Behandlungsteams für Menschen mit einer Psychose (Early Intervention Teams EIT), Kriseninterventionsteams (Crisis Resolution and Home Treatment Teams CRHT) und Assertive Outreach Teams (AOT) flächendeckend eingeführt und erst nach Einführung bezüglich ihrer Effektivität und Kosteneffektivität evaluiert. Dabei wird gemeinhin angenommen, dass solche Effektivitätsstudien robuste, reprodizierbare Daten und „definitive“, abschließende Ergebnisse liefern. Das ist jedoch ein Trugschluss. Die Gründe dafür sind vielfältig und oft eng mit dem Studiendesign verbunden. Einige davon sollen hier diskutiert werden:

  • Neuartige Versorgungseinrichtungen werden oft von neu gebildeten, hoch motivierten und „von der Sache“ überzeugten Teams, bisweilen mit charismatischen Führungsfiguren an der Spitze, betrieben. Verglichen werden sie meist mit lange bestehenden gemeindepsychiatrischen Behandlungsteams, deren Mitarbeitende viel Berufserfahrung haben und ihre Klientel schon lange betreuen, ihre Arbeit aber in der Regel wenig hinterfragen und/oder ändern bzw. weiterentwickeln (mussten), deshalb möglicherweise nicht immer nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeiten und so als „wenig innovativ“, „traditionell“ und „nicht evidenzbasiert“ gelten.

  • Oft wird angenommen, dass gemeindepsychiatrische Behandlungsteams überall nach den gleichen oder zumindest vergleichbaren Prinzipien und Modellen arbeiten. Sie werden deshalb „Standardbehandlung“ oder „Standardbedingung“ genannt. Doch es herrscht auch nach Dekaden psychiatrischer Versorgungsforschung wenig Gewissheit, wie gemeindepsychiatrische Behandlungsteams auszusehen haben und durch was sie definiert sind. Deshalb ist meistens „Standardbehandlung nicht gleich Standardbehandlung“. Es ist nachgerade ein Imperativ im Bereich der Versorgungsforschung, neben der exakten Definition der Versuchsbedingung auch die sog. Standardbehandlung genauestens zu beschreiben, wie dies Burns u. Priebe [2] schon 1996 gefordert haben. Unterstützt wird dies etwa durch Resultate, die zeigen konnten, dass die Verminderung der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus durch AOTs mehr davon abhängt, wie die als Standardbedingung bezeichneten gemeindepsychiatrischen Behandlungsteams arbeiten als von der Versuchsbedingung [3].

  • Meist ist die Zeit, die neue Versorgungsmodelle beobachtet werden, auf höchstens 2 Jahre beschränkt. Längere Untersuchungszeiten sind selten und die Qualität der entsprechenden Studien leidet, weil viele der einstmals rekrutierten Patienten nicht mehr untersucht werden können. Es gibt aber auch Untersuchungen, die zeigen, dass sich die vermeintlich positiven Effekte von neuen Behandlungsmodellen mit der Zeit abschwächen oder verschwinden. Neuestes Beispiel dafür ist die Debatte um die Früherkennungs- und Behandlungsteams für Menschen mit einer Psychose [4] [5] [6] und teilweise um die Kriseninterventionsteams [7] [8]. In der Natur der Sache liegt es, dass sich Versorgungsmodelle weiterentwickeln und anpassen. Dabei ist es aber oft schwierig, „Modelltreue“ oder „Modellgüte“ zu definieren und zu messen. Es braucht deshalb lange Beobachtungszeiten und entsprechende Treue- oder Gütekriterien, um entsprechende Versorgungsmodelle zu evaluieren.

  • Versorgungsmodelle sind nur so gut wie die Versorgungsumgebung, in der sie eingebettet sind [9]. Fehlende Zuweisungen oder ungenügende Möglichkeiten der Weiterbetreuung nach Abschluss der Behandlung in nachgeordneten Einrichtungen können die besten Versorgungsmodelle scheitern lassen. Diese meist lokalspezifischen Begebenheiten müssen bei der Interpretation von Resultaten der Versorgungsforschung berücksichtigt werden.

Was können nun für Schlüsse für die Versorgungsforschung, -planung und -politik gezogen werden? Ausstehend ist immer noch die (bessere) Charakterisierung gemeindepsychiatrischer Behandlungsteams und deren Behandlungsweise. Diese Teams stammen meist aus der Zeit, bevor Versorgungsforschung entstanden ist, und sind deshalb wenig erforscht. Sind also gemeindepsychiatrische Behandlungsteams Auffangbecken für all diejenigen, die sonst nirgends untergebracht bzw. behandelt werden können und „irgendwie etwas Psychisches oder Psychiatrisches“ haben? Oder haben auch sie eine spezifisch definierte Klientel, für die sie Leistungen erbringen? Wie wird diese Klientel definiert? Wie sehen diese Leistungen aus und wie werden sie gemessen? Lassen sich möglicherweise sogar „Modelltreue“ oder „Modellgüte“ für gemeindepsychiatrische Behandlungsteams definieren und messen?

Wenig Zweifel herrscht auch darüber, dass lange Beobachtungszeiten erforderlich sind (oder zumindest längere als heute üblich), um definitive Aussagen bezüglich Effektivität und Kosteneffektivität zu machen. Wie vorher schon erwähnt, müssen Ergebnisse aus der Studienphase nicht zwangsläufig auch für den Alltagsbetrieb gelten. Das heißt aber auch, dass Versorgungsplanung und -politik nicht kurzfristig, sondern langfristig angelegt werden müssen, weil sich nur so verlässliche Aussagen machen lassen.

 
  • Literatur

  • 1 Bundesärztekammer. Arbeitskreis Versorgungsforschung. Definition und Abgrenzung der Versorgungsforschung. Berlin: 2004
  • 2 Burns T, Priebe S. Mental health care systems and their characteristics: a proposal. Acta Psychiatr Scand 1996; 94: 381-385
  • 3 Burns T, Catty J, Dash M et al. Use of intensive case management to reduce time in hospital in people with severe mental illness: systematic review and meta-regression. BMJ 2007; 335: 336
  • 4 McCrone P, Craig TK, Power P et al. Cost-effectiveness of an early intervention service for people with psychosis. Br J Psychiatry 2010; 196: 377-382
  • 5 Gafoor R, Nitsch D, McCrone P et al. Effect of early intervention on 5-year outcome in non-affective psychosis. Br J Psychiatry 2010; 196: 372-376
  • 6 Bertelsen M, Jeppesen P, Petersen L et al. Five-year follow-up of a randomized multicenter trial of intensive early intervention vs standard treatment for patients with a first episode of psychotic illness: the OPUS trial. Arch Gen Psychiatry 2008; 65: 762-771
  • 7 Johnson S, Nolan F, Pilling S et al. Randomised controlled trial of acute mental health care by a crisis resolution team: the north Islington crisis study. BMJ 2005; 331: 599
  • 8 Catty J, Burns T, Knapp M et al. Home treatment for mental health problems: a systematic review. Psychol Med 2002; 32: 383-401
  • 9 Reim Gautier C, Spycher I, Andreae A. Stadt statt Land. Evaluation der Auswirkungen eines strukturellen Faktors auf die Gemeindenähe und Niederschwelligkeit der Akutpsychiatrie. Psychiat Prax 2010; 37: 397-400