Z Gastroenterol 2012; 50(3): 271-272
DOI: 10.1055/s-0031-1299319
Stellungnahme
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Telaprevir-Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gemäß § 35a SGB V (Dossierbewertung)

Stellungnahme des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS)
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. März 2012 (online)

Für Patienten mit einer chronischen Hepatitis-C-Infektion vom Genotyp 1 stehen seit 2011 auch in Deutschland die HCV-NS3/4A-Protease-Inhibitoren Boceprevir und Telaprevir in Kombination mit pegyliertem Interferon und Ribavirin zur Verfügung. Beide Substanzen haben in den Phase-3-Zulassungsstudien sowohl bei bislang nicht vorbehandelten als auch bei vorbehandelten Patienten deutlich verbesserte Heilungsraten gegenüber der früheren dualen Standardkombinationstherapie Peginterferon plus Ribavirin gezeigt.

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) hat bereits im Dezember 2011 zu der Nutzenbewertung von Boceprevir Stellung genommen (Zeitschrift für Gastroenterologie 2012; 50: 20 – 21), der sich auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) angeschlossen hat. Hauptkritikpunkt war die Einschätzung des IQWiG, dass das dauerhafte virologische Ansprechen (SVR) „per se kein patientenrelevanter Endpunkt und daher nicht mit Heilung der Erkrankung gleichzusetzen“ sei. Dieser Einschätzung haben die DGVS und die DGIM nachdrücklich widersprochen.

Aufgrund der publizierten Studien, inklusive systematischer Reviews, besteht an der Dauerhaftigkeit der Viruseradikation nach Erreichen einer SVR kein Zweifel. Es bestehen keinerlei wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür, dass der klinische Nutzen, der einem dauerhaften virologischen Ansprechen folgt, von der Art und/oder Dauer der eingesetzten Medikamente abhängig ist, d. h. der entscheidende Zielparameter ist eine SVR, die einer dauerhaften Viruseradikation entspricht.

Zahlreiche und umfassende Studien haben bewiesen, dass die Viruseradikation zu einer Verminderung der entzündlichen Aktivität in der Leber und einer Fibroseregression führt. In zahlreichen Studien wurde sogar eine Regression aus dem Stadium der Leberzirrhose dokumentiert. Es besteht in der Hepatologie unabhängig von der Ätiologie kein Zweifel, dass eine Fibroseregression auch die Risiken von Zirrhosekomplikationen (u. a. portale Hypertension, Aszites, hepatozelluläres Karzinom) mindert. Die Datenlage ist so überzeugend, dass weltweit sämtliche Zulassungsbehörden die SVR bei der Behandlung der chronischen Hepatitis C als primären Therapieendpunkt anerkannt haben und histologische Untersuchungen nach Ende der Therapie nicht mehr durchgeführt werden.

Erfreulicherweise schätzt das IQWiG in seiner Teleprevir-Nutzenbewertung den Endpunkt „dauerhaftes virologisches Ansprechen (SVR)“ jetzt als „ausreichend valide“ ein, „um als Surrogat für einen patientenrelevanten, in den eingeschlossenen Studien jedoch nicht erhobenen Endpunkt (hepatozelluläres Karzinom) herangezogen zu werden“ (Seite 4 der Dossierbewertung). Das Institut bleibt aber bei der Auffassung, dass „die SVR als Surrogat nicht formal validiert“ sei und die Einschätzung der Validität ausschließlich auf Daten aus „Beobachtungsstudien ohne die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Effekten auf das Surrogat und Effekten auf die interessierenden (patientenrelevanten) Endpunkte“ beruhe (Seite 4 der Dossierbewertung). Dieser „erhöhten Unsicherheit“ trägt das IQWiG durch die Einstufung als „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen von Telaprevir Rechnung. An anderer Stelle der Nutzenbewertung äußerst sich das IQWiG allerdings widersprüchlich und hält „die Berücksichtigung des SVR in der Nutzenbewertung und die Ableitung von Aussagen zum Zusatznutzen grundsätzlich möglich“ (Seite 29 der Dossierbewertung).

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten bleibt an dieser Stelle bei seiner bereits in der Stellungnahme zur Boceprevir-Nutzenbewertung dargelegten Auffassung. Die wissenschaftliche Literatur zeigt bei Patienten, die eine SVR erreichen, in Abhängigkeit von dem Fibrosestadium vor Therapiebeginn eine Risikoreduktion um 70 – 80 %. Mit dem Erreichen einer um ca. 30 % höheren SVR-Rate bei Genotyp-1-infizierten Patienten mit der Tripeltherapie Peginterferon-alfa, Ribavirin plus Protease-Inhibitor gegenüber der dualen Kombinationstherapie Peginterferon-alfa plus Ribavirin ist eine Risikoreduktion sehr wohl quantifizierbar und klinisch als erheblich einzustufen.

Die Phase-3-Zulassungsstudien für Telaprevir (ADVANCE, ILLUMINATE und REALIZE) wurden zusammen mit mehreren Phase-2-Studien von der amerikanischen und europäischen Zulassungsbehörde (FDA bzw. EMA) umfassend wissenschaftlich analysiert. Die Zulassungsbehörden kamen abweichend vom Design der Phase-3-Studie für vortherapierte Patienten (hier wurden alle vorbehandelten Patienten über insgesamt 48 Wochen behandelt) zu der Einschätzung, dass Patienten ohne Zirrhose mit einem virologischen Rückfall (Relapse) bei Erreichen einer eRVR (extended rapid virologic response: nicht nachweisbare HCV-RNA im Serum zu Therapiewoche 4 und 12) unter der Tripeltherapie mit Peginterferon, Ribavirin und Telaprevir nur eine Gesamttherapie von 24 Wochen benötigen. Diese auch von nationalen und internationalen hepatologischen Fachgesellschaften akzeptierte Datenanalyse führte zu der Zulassung einer „Response-guided“-Therapie (RGT) nicht nur für unvorbehandelte Patienten, sondern auch für Patienten mit einem Relapse auf eine vorangegangene Peginterferon/Ribavirin-Therapie (d. h. 24 Wochen Gesamttherapiedauer für Patienten mit einer eRVR, 48 Wochen für Patienten ohne eine eRVR). Die Zulassung der RGT-basierten Therapie auch für Patienten mit Zustand nach Relapse stützt sich zudem auf prospektive Daten einer Phase-2-Studie, die 2011 in Hepatology veröffentlicht wurden (Muir AJ et al. Hepatology 2011; 54: 1538 – 1546). Unter dem aktuell zugelassenen Therapieregime betrugen die Heilungsraten bei Patienten mit Relapse in dieser Studie 97 %.

Anstatt diese sorgfältige und wissenschaftlich fundierte Datenanalyse aufzugreifen und zu berücksichtigen, argumentiert nun das IQWiG in seiner Dossierbewertung, dass die Datenlage für Patienten mit Relapse aus der Phase-3-Zulassungsstudie nicht der Zulassung entspräche und damit „die verfügbaren Daten also nicht zur Beantwortung der interessierenden Fragestellung (zulassungskonforme Anwendung in dieser Population) geeignet“ wären (Seite 9 der Dossierbewertung).

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten kann dieser Interpretation nicht folgen und unterstützt nachdrücklich die Datenanalyse der Zulassungsbehörden. Die zugelassene RGT-basierte Therapie von Patienten mit Relapse beeinflusst nicht die Therapiedauer mit dem neu zugelassenen (und zu bewertenden) HCV-NS3/4A-Protease-Inhibitor Telaprevir (die unabhängig von der jeweiligen Konstellation auf 12 Wochen festgesetzt ist), sondern steuert die Dauer der dualen Erhaltungstherapie mit Peginterferon und Ribavirin. Damit erspart die nun zugelassene RGT-basierte Therapie zahlreichen Patienten eine zusätzliche 24-wöchige Therapie mit Peginterferon/Ribavirin, die die Chancen auf eine SVR nicht weiter verbessert. Die Peginterferon/Ribavirin-Therapie ist eine kosten- und nebenwirkungsträchtige Therapie, eine Verkürzung dieser Therapie um 24 Wochen wird klinisch als höchst relevant eingeschätzt.

In diesem Zusammenhang zeugt die Sichtweise des IQWiGs, dass eine Steuerung der Therapiedauer nicht „per se patientenrelevant“ sei, „da eine Verkürzung der Therapiedauer nicht automatisch zu einer Verminderung von Folgekomplikationen oder unerwünschten Ereignisse führen muss“ (Seite 67 der Dossierbewertung) von fehlender klinischer Kompetenz. Tatsächlich führt eine Verkürzung der Gesamttherapiedauer von 48 auf 24 Wochen bei allen behandelten Patienten aufgrund des umfangreichen Nebenwirkungsspektrums von Peginterferon und Ribavirin zu einer ausgeprägten und klinisch höchst relevanten Verringerung von unerwünschten Ereignissen und zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität.

In der Dossierbewertung stellt das IQWiG eine interessante Subanalyse für die Indikation nicht vorbehandelter Patienten ohne Leberzirrhose vor. Die SVR-Raten für nicht vorbehandelte Patienten mit hoher Ausgangsviruslast (> 800 000 IU/mL) lagen für die Dreifachtherapie (Peginterferon/Ribavirin/Telaprevir) bzw. die duale Therapie (Peginterferon/Ribavirin) bei 74 bzw. 36 % (RR 2,03 [1,72; 2,41]), während sich die SVR-Raten für Patienten mit niedriger Ausgangsviruslast für die beiden Therapieschemata mit 78 % und 70 % (RR 1,12 [0,93; 1,35]) nicht statistisch signifikant unterschieden (Tab. 10, Seite 36 der Dossierbewertung). Das IQWiG stellt an dieser Stelle zur SVR fest, dass „ein Zusatznutzen von Telaprevir für therapienaive Patienten ohne Zirrhose mit niedriger Ausgangsviruslast somit für diesen Endpunkt nicht belegt“ sei (Seite 36 der Dossierbewertung). Leider berücksichtigt die Analyse nicht den Anteil der Patienten, die sich für eine auf 24 Wochen verkürzte Therapie qualifizieren. Es ist zu vermuten, dass die überwiegende Zahl der Patienten mit niedriger Ausgangsviruslast eine eRVR erzielt und somit nur für 24 Wochen behandelt werden muss. Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten schlägt daher entsprechende ergänzende Analysen vor, um zu einer abschließenden Beurteilung des Zusatznutzens von Telaprevir für diese Patientensubgruppe zu gelangen.

In der Telaprevir-Dossierbewertung führt das IQWiG ferner aus, dass „für die Indikation therapienaive Patienten mit Zirrhose ein Zusatznutzen von Telaprevir + Peginterferon + Ribavirin gegenüber Peginterferon + Ribavirin nicht belegt“ sei (Seite 9 der Dossierbewertung). Ferner ergeben sich nach Ansicht des Instituts für vorbehandelte Non-Responder je nach Zirrhose-Status unterschiedliche Ergebnisse: „Für Patienten ohne Zirrhose liegt ein Hinweis auf einen Zusatznutzen (Ausmaß nicht quantifizierbar) von Telaprevir + Peginterferon + Ribavirin gegenüber Peginterferon + Ribavirin vor. Für Patienten mit Zirrhose liegt hingegen ein Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen (Ausmaß nicht quantifizierbar) von Telaprevir + Peginterferon + Ribavirin gegenüber Peginterferon + Ribavirin vor“ (Seite 9 der Dossierbewertung).

Nach Einschätzung des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten zeigen sich in allen Telaprevir-Zulassungsstudien zusammengenommen deutliche und überzeugende Verbesserungen der SVR-Raten auch bei Patienten mit fortgeschrittenen Fibrosestadien bzw. mit einer Leberzirrhose. Die Heilungsraten betrugen in der ADVANCE-Studie bei unvorbehandelten Patienten mit Zirrhose unter Telaprevir-basierter Therapie 71 vs. 38 % unter der dualen Therapie mit Peginterferon plus Ribavirin und für Patienten mit Zustand nach Relapse 84 vs. 13 %. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland (leitliniengerecht) nur noch ein kleiner Teil von Patienten vor Therapiebeginn überhaupt leberbiopsiert wird, erscheint eine Betrachtung der SVR-Raten nach Fibrosestadium eher von akademischem denn von klinisch-praktischem Interesse. Das Ausmaß der Fibrose entspricht nur unterschiedlichen Stadien derselben chronischen Virusinfektion. Aufgrund eines deutlich erhöhten Leberzellkarzinom-Risikos wird allerdings für Patienten mit einer fortgeschrittenen Fibrose oder Zirrhose gegenüber Patienten mit keiner oder einer geringen Fibrose in jeder Therapieleitlinie die besondere Indikation zur antiviralen Therapie herausgehoben. Die Notwendigkeit, auch Patienten mit fortgeschrittenen Fibrosestadien in klinischen Studien mit neuen antiviralen Medikamenten zu behandeln, ergibt sich im Wesentlichen aus der Notwendigkeit, Daten zur Medikamentensicherheit und Verträglichkeit in dieser Patientenpopulation zu generieren. Hier erscheinen in der Tat weitere Studien von Bedeutung zu sein, insbesondere unter Einschluss von Patienten mit weiter fortgeschrittenen Leberzirrhosestadien (z. B. Patienten mit einem Child-Pugh Stadium B).

Zusammenfassend betrachtet der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten die Zulassung der ersten HCV-NS3/4A-Protease-Inhibitoren als einen Meilenstein in der Behandlung von Patienten mit chronischer Hepatitis C, die mit dem Genotyp-1 infiziert sind. Der Zusatznutzen mit einer Verbesserung der dauerhaften virologischen Ansprechraten (SVR) um ca. 30 % ist klinisch und wissenschaftlich als erheblich einzuschätzen.

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und

Stoffwechselkrankheiten

Prof. Dr. Axel Dignaß

Prof. Dr. Peter Galle

Prof. Dr. Jürgen Hochberger

Prof. Dr. Peter Layer

Prof. Dr. Markus Lerch

Prof. Dr. Till Wehrmann

Prof. Dr. Stefan Zeuzem