Zeitschrift für Palliativmedizin 2012; 13(01): 24-27
DOI: 10.1055/s-0031-1301108
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizinethik – Ist "Kultur" in Palliative Care von Belang? Überlegungen aus anthropologischer Sicht

Piret Paal
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Publication Date:
12 January 2012 (online)

 

Einer der Grundsätze in der Medizinethik besagt, dass ähnlich kranke Patienten ähnlich zu behandeln sind. Die Berücksichtigung kultureller Faktoren in Palliative Care und Sterbebegleitung relativiert dieses medizinethische Prinzip, indem es Differierendes berücksichtigt. Der Beitrag weist auf die Auswirkungen von Kultur in der palliativen Versorgung hin und hinterfragt zugleich kulturgebundene Ideologien in der Begleitung am Lebensende.

Palliative Care ist im Begriff, den gesamten Ansatz der westlichen Medizin zu verändern: Indem etablierte Strukturen und als fraglos gegebene Ziele medizinisch-therapeutischen Handelns, die lange Zeit eine Gesundheitspolitik der Standardlösungen bevorzugten, in Frage gestellt werden. Der Ansatz von Palliative Care etabliert eine radikale Patientenzentrierung, die nicht erst bei medizinethischen Konflikten nach der Patientenautonomie fragt, sondern diese auch zum Maßstab von Lebensqualität macht. Die Patientenzentrierung von Palliative Care geht mit der Entwicklung eines wachsenden Pluralismus, den möglichen Erwartungen bezüglich der eigenen Gesundheit und Lebensqualität sowie den Erfahrungen mit Krankheitszuständen einher. Bislang funktionierten Kliniken als "totale Institutionen", in denen individuelle Werte und persönliche Eigenschaften eine weniger wichtige Rolle spielten [ 1 ]. Mit diesem Ansatz kollidiert das Konzept von Palliative Care in vielfacher Hinsicht, wie im Folgenden mit einem Fokus auf klinische Einrichtungen im multikulturell geprägten urbanen Kontext gezeigt werden soll. Das Aufbrechen alter Regeln und vorgegebener Strukturen stellt für alle Bereiche des Gesundheitswesens eine große Herausforderung dar: Es bedeutet Veränderungen in der Gesundheitspolitik, der -Gesetzgebung, der medizinischen Ausbildung, der Klinikstrukturen und – vor allem – in der Herangehensweise an die Patienten.

Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das zunehmende Interesse, das kulturellen Aspekten entgegengebracht wird, etwa dem ethnischen und religiösen Hintergrund von Patienten und ihrer Bedeutung für die Pflege (vgl. den Beitrag "Palliative Care im Kontext kulturell-religiöser Vielfalt" von Andreas Stähli in der letzten Ausgabe der Zeitschrift für Palliativmedizin) [ 2 ].

Die Experten von Palliative Care, die unterschiedlichen medizinischen und nicht-medizinischen Disziplinen angehören, entdecken in der Sensibilisierung für die kulturellen Aspekte bei der Krankenversorgung und Sterbebegleitung das Potential, auch in Krankenhäusern Pflege und Versorgung anzubieten, die den individuellen und kulturell geprägten Bedürfnissen des Patienten entsprechen.

Der Palliative Care-Ansatz hat zumindest das Etappenziel erreicht, dass von einem Patienten in einer medizinischen Einrichtung nicht mehr erwartet wird, ein "geduldiger Leidender" zu sein. Dies geht mit dem Stichwort "Kundenorientierung" einher, die dem Patienten zugesteht, dass individuelle Bedürfnisse und Wünsche – soweit möglich – berücksichtigt werden und die Zufriedenheit ein wichtiger Maßstab für die Qualität der Versorgung darstellt. Der Umschwung zur Personenzentriertheit im Gesundheitswesen markiert einen "Paradigmenwechsel" [ 3 ], der neue Handlungs- und Kommunikationsregeln mit sich bringt. Politische und wirtschaftliche Bedingungen ändern sich nach und nach, doch wesentliche Umstellungen, die eine bessere Pflege und die Erhaltung der Lebensqualität bis zum Lebensende betreffen, können durch intensive Selbstbeurteilung und bewusste Teamarbeit erreicht werden.

In diesem Beitrag möchte ich aus Sicht der medizinischen Anthropologie einen kritischen Blick auf die Möglichkeiten einer Kultur verbundenen Patientenzentrierung und auf ihre Bedingungen werfen.

 
  • Literatur

  • 1 Goffmann E. Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. New York, Doubleday, 1961
  • 2 Stähli A. Palliative Care im Kontext kulturell-religiöser Vielfalt. Zeitschrift für Palliativmedizin 2011; 12 (Suppl. 06) 256-259
  • 3 Kuhn TS. The Structure of Scientific Revolutions. University of Chicago Press 3 A. 05.12.1996;
  • 4 Helman C. Why Medical Anthropology Matters?. Anthropology Today 2006; 22 (Suppl. 01) 3-4
  • 5 Boas F. Museums of Ethnology and their classification. Science 1887; 9 (589)
  • 6 Deutscher G. Through the Language Glass: Why the World Looks Different in Other Languages. London: Arrow Books; 2010
  • 7 Baustinger H. Senseless Identity. Identity: Personal and Socio-Cultural. Uppsala; 1994
  • 8 Tsing AL. Friction: An Ethnography of Global Connection. Princeton, NJ. Princeton University Press 2005;
  • 9 Mattingly C. Reading Minds and Telling Tales in a Cultural Borderland. Ethos 2008; 36 (Suppl. 01) 136-154
  • 10 Purnell L. The Purnell Model for Cultural Competence. Journal of Transcultural Nursing 13.07.2002; 13 (Suppl. 03) 193-196