Psychiatr Prax 2012; 39(02): 93-95
DOI: 10.1055/s-0032-1305968
Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gemeinsame Stellungnahme zum Kabinettsentwurf "Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen"

Further Information

Publication History

Publication Date:
09 March 2012 (online)

 

Mit dem KHRG hat der Deutsche Bundestag ein zukunftsweisendes Rahmengesetz vorgegeben, das über die psychiatrischpsychotherapeutisch-psychosomatische Behandlung durch das Krankenhaus hinaus die Weiterentwicklung der regionalen Versorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund im Sinne eines "lernenden Systems" fördern soll.

In der ersten Umsetzungsphase seit 2009 waren die entscheidenden Akteure in der Selbstverwaltung aus unserer Sicht zu wenig an den "besonderen Bedürfnissen der psychisch Kranken" (§27 SGB V) und den neueren internationalen fachlichen und organisatorischen Entwicklungen in der psychiatrischen Versorgung orientiert und übernahmen systemwidrig Verfahren aus dem DRG-Umsetzungsprozess. Leider wurden in keinem der vier zentralen Aufgabenfelder des KHRG wesentliche Fortschritte erreicht. Infolge fachlich und methodisch kontraproduktiver und zugleich aufwendiger Dokumentationsanordnungen auf der einen Seite und noch ausstehender Umsetzungsaktivität in anderen Bereichen wurde bei den Fachverbänden und Bundesarbeitsgemeinschaften – nicht zuletzt bei den am meisten Betroffenen, den Patienten, den Angehörigen und den in der Behandlung Beschäftigten – zunehmend Verunsicherung, Kritik und Widerstand ausgelöst.

Der jetzt vorgelegte Kabinettsentwurf geht mit der Verlängerung der budgetneutralen und der Konvergenzphase sowie vor allem mit der Betonung notwendiger Modellerprobungen zur Bearbeitung der Prüfaufträge in Teilbereichen über die Vorarbeiten der Selbstverwaltung hinaus, bedarf aber noch tiefgreifender Änderungen und Konkretisierungen, wenn die Ziele und Aufträge des KHRG von 2009 im Sinne einer bedarfsgerechten und effizienten Krankenhausbehandlung realisiert werden sollen.

Die diese kurze Stellungnahme unterzeichnenden Verbände haben die aus ihrer Sicht die für das Einführungsgesetz vorrangig notwendigen und nicht zuletzt verbindlichen und öffentlich überprüfbaren Regelungen stichwortartig in drei Abschnitten formuliert.

  1. Sicherstellung einer interessensneutralen unabhängigen Prozessbegleitung [ 1 ]:
    Berufung einer Expertenkommission aus Sachverständigen, der auch Patienten- und Angehörigen-Vertreter angehören, durch das Bundesministerium für Gesundheit. Diese Kommission überprüft und bewertet die Umsetzung der Arbeitsaufträge des KHRG und spricht Empfehlungen für den weiteren Umsetzungsprozess und die "lernende Novellierung" des Einführungsgesetzes aus. Sie kann Anhörungen durchführen. Die regelmäßigen Berichte sind öffentlich.

  2. Zielführende Bearbeitung der vier Aufträge des KHRG durch die Selbstverwaltung Dabei ist der wechselseitige Zusammenhang der Aufträge auch im zeitlichen Verlauf zu beachten [ 2 ].

    1. Sicherstellung und verlässliche Überprüfung der Anpassung der Personalausstattung in allen Krankenhäusern mit regionaler Versorgungsverpflichtung an die Vorgaben der Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) vor Eintritt in die Konvergenzphase durch gesetzliche Vorgaben zur Überprüfung und Meldepflicht. Weiterentwicklung der Psych-PV zu einer dauerhaft verlässlich finanzierten Mindestpersonalausstattung für sämtliche Tagesentgelte als unverzichtbares Maß für Strukturqualität [ 3 ].

    2. Sicherstellung der zeitgerechten Erarbeitung bedarfs- und verteilungsgerechter, praktikabler Tagesentgelte und Zusatzentgelte – einschließlich der Finanzierung der Vorhalteleistungen für Krankenhäuser mit regionaler Versorgungsverpflichtung [ 4 ] – inkl. deren Überprüfung seitens der Expertenkommission und der Begleitforschung und vor dem Start der Konvergenzphase.

    3. Stärkung der fachlichen und ökonomischen Anreize für Modellerprobungen gem. §64 b (Kabinettsentwurf) im Sinne der Prüfaufträge des KHRG zur Verbesserung von Flexibilität, Nachhaltigkeit und damit Wirtschaftlichkeit der Krankenhausbehandlung. Sicherstellung von Rahmenbedingungen für Planungssicherheit der regionalen Vertragspartner sowie für die Vergleichbarkeit mit Regionen der Regelversorgung; Berücksichtigung der Besonderheiten kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung. Erleichterung der Umsetzungsmöglichkeiten von Modellerprobungen und des Effizienzvergleichs sowie ggf. der Übertragung erfolgreicher Finanzierungsmodelle in die Regelversorgung.

    4. Ergänzung des Auftrags der Begleitforschung gem. KHG §17d [ 8 ] durch Einbeziehung von regionalen Begleitforschungen.
      Belastbare und aussagekräftige Ergebnisse der Begleitforschung gemäß KHG §17d (8) [ 5 ] sind nur zu erwarten, wenn die bundesweite Begleitforschung ergänzt wird durch regionale Begleitforschung, in der die Entwicklungsdynamik der Versorgungsstrukturen untersucht wird, und deren Ergebnisse einerseits unmittelbar in den regionalen Entwicklungsprozess eingehen, andererseits an die bundesweite Begleitforschung berichtet werden.

  3. In der Begründung des Gesetzes sollte die nach internationalen Erfahrungen geboteneWeiterentwicklung der psychotherapeutisch- psychosomatischen Behandlung durch das Krankenhaus im regionalen Hilfesystem im Zusammenhang erläutert werden [ 6 ]. Es geht v. a. um patientenzentrierte und lebensweltbezogene, bedarfs- und verteilungsgerechte Behandlungsformen in partnerschaftlicher Kooperation mit anderen Leistungsbereichen, nicht nur des SGB V, und um gemeinschaftliche Koordination des regionalen Leistungsgeschehens unter Beteiligung von Vertretern der Leistungsträger, der Leistungserbringer und der Vereinigungen von Betroffenen und Angehörigen – in Moderation durch die Kommunen oder Landkreise.

Nach Auffassung der unterzeichnenden Organisationen und Verbände sind dies unabdingbare Voraussetzungen für die Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der psychiatrisch-psychotherapeutisch-psychosozialen Versorgung. Bei Kenntnis der Entwicklungen der psychiatrisch-psychotherapeutischpsychosomatischen Versorgung in der BRD und unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen muss man davon ausgehen, dass

  • ohne eine Mindestpersonalausstattung – gesetzlich abgesichert hinsichtlich der Finanzierung und der transparenten Überprüfung – die Qualität der psychiatrisch-psychotherapeutische Krankenhausbehandlung [ 7 ] generell immer weiter abnimmt, mit der Folge von verstärkter Chronifizierung schwerer Störungen und Kostenanstiegen, u. a. in der Eingliederungshilfe.

  • ohne verlässliche Rahmenbedingungen für die regionale Versorgungsverpflichtung mit Umsteuerung von vollstationärer Behandlung in Hometreatment und in flexible ambulante Leistungserbringung die Chancen für wirksame, nachhaltige und wirtschaftlichere Behandlung vertan werden.

  • ohne eine die Selbstverwaltung begleitende unabhängige Expertenkommission (u. a. mit Vertretern der Betroffenen, der Angehörigen und der übrigen Leistungserbringer) ein "lernendes System" sich nicht hinreichend entwickeln kann [ 8 ].

Diese Stellungnahme wird von den unten aufgeführten unterzeichnenden Organisationen und Verbänden unterstützt, wobei auf die vertiefenden und ergänzenden Stellungnahmen der einzelnen Unterzeichner verwiesen wird.

Die Unterzeichner bitten die Mitglieder des Deutschen Bundestags, die Stellungnahme bei der Überarbeitung des Kabinettsentwurfs und der Entscheidung über das Gesetz zu bedenken und zu berücksichtigen.

    Organisationen

  • ackpa (Arbeitskreis der Chefärztinnen und Chefärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland e. V.)

  • APK (Aktion Psychisch Kranke e. V.)

  • Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde e. V.

  • BApK (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker)

  • BPE (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V.)

  • Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V.

  • BundesArbeitsGemeinschaft Leitender MitarbeiterInnen des Pflege- und Erziehungsdienstes kinder- und jugendpsychiatrischer Kliniken und Abteilungen e. V.

  • Dachverband Gemeindepsychiatrie e. V.

  • Der Paritätische – Gesamtverband

  • DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V.)

  • Diakonie Bundesverband – DiakonischesWerk der EKD e.V.

  • Netzwerk "Steuerungs- und Anreizsysteme für eine moderne psychiatrische Versorgung"

Kontaktadresse:
apk-bonn@netcologne.de

 
  • Hinweise

  • 1 Die Regelung bedeutet eine Präzisierung und Erweiterung von KHG § 17d (6), 3. Satz 3
  • 2 Gegenwärtig ist z. B. der künftige, im Herbst 2012 erstmals anzuwendende Entgeltkatalog noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar, so dass nicht auszuschließen, dass es zu einer Verschiebung der Einführung kommen muss. Dies wäre fachlich und wirtschaftlich eher überstürzten Vorgaben vorzuziehen, die in Nachhinein aufwendige Umsteuerungen verursachen.
  • 3 Die notwendige Mindestpersonalausstattung steht im Widerspruch mit dem Festhalten an der "Deckelung" der Kostenentwicklung durch die Veränderungsrate gem. § 71 SGB V (Grundlohnbudgetierung) und einer tendenziellen Absenkung des Landesbasisentgeltwerts bei Fallzahlsteigerungen. Beides führt zu Budgetabsenkungen mit unvermeidlicher Auswirkung auf die Personalausstattung und ist deshalb zu streichen. Die zukünftige Mindestpersonalausstattung für die Tagesentgelte kann auf der Grundlage einer sachgerechten Ermittlung der Relativgewichte vom InEK während der budgetneutralen Phase ohne erheblichen Aufwand errechnet werden.
  • 4 Versorgungsregion ist nach Vorgabe der Landesregierung in der Regel die Kommune, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie wie z. T. auch in der Psychosomatik die Zusammenfasssung mehrerer Kommunen oder Kreisgebiete
  • 5 "Die Vertragsparteien auf Bundesebene führen eine Begleitforschung zu den Auswirkungen des neuen Vergütungssystems, insbesondere zur Veränderung der Versorgungsstrukturen und zur Qualität der Versorgung, durch. Dabei sind auch die Auswirkungen auf die anderen Versorgungsbereiche sowie die Art und der Umfang von Leistungsverlagerungen zu untersuchen."
  • 6 Ein derartiges Konzept war aus Teilen der Begründung zum KHRG bisher eher interpretativ abzuleiten: Siehe z.B. Verweise auf das Konzept der AOLG 2007; flexiblere sektorübergreifende Behandlung, z. B. im Rahmen von Jahresbudgets; Anpassung an medizinische Entwicklungen, Veränderungen der Versorgungsstrukturen und Kostenentwicklungen.
  • 7 Vgl. die Entwicklung seit 1996
  • 8 Die wesentlichen Entwicklungen der Psychiatriereform seit 1971 – Psychiatrieenquête, Modellverbund, Expertenkommission zum Bundesmodellprogramm, Psychiatriepersonalverordnung, Entwicklung und Implementierung des personenzentrierten Ansatzes u. a. – sind sämtlich von unabhängigen Expertenkommissionen ausgegangen