Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2012; 47(3): 162-163
DOI: 10.1055/s-0032-1307464
Fachwissen
AINS-Secrets
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Pssst ... AINS-Secrets! – Heute aus der Gefäßchirurgie

Martin Bergold
,
Pia Ockelmann
,
Daniel Gill-Schuster
,
Kai Zacharowski
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Publication History

Publication Date:
22 March 2012 (online)

Der seit mehreren Monaten von einem Bandscheibenvorfall geplagte männliche Patient A. (56 Jahre, 75 kg, starker Raucher) sitzt eines Abends vor dem Abendprogramm und greift nach seinem hefehaltigen Getränk, als er einen deutlichen Schmerz im Lendenwirbelsäulen-Bereich verspürt, der diffus über das untere Abdomen und das linke Gesäß bis in D 1 der unteren Extremität fortgeleitet wird.

Mit einem einhergehenden Sensibilitätsverlust des Oberschenkels stellt sich bei dem Patient A. eine langsame aber sichere Progression der Schmerzen ein, sodass er den Rettungsdienst anfordert. Der mitalarmierte Notarzt vermutet einen akuten Bandscheibenvorfall und weist den Patienten unter Applikation von Opioiden (10 mg Morphin i. v. unter Schmerzstärke NAS 7) stationär ein. In der Klinik der Maximalversorgung angekommen, wird in der dortigen zentralen Notaufnahme von dem diensthabenden Neurochirurgen die Indikation zu einer CT-Diagnostik gestellt. Der Radiologe diagnostiziert jedoch nach der Nativfahrt des CTs neben einer Spinalkanalstenose auf Höhe L3 / L4 eine ungewöhnliche Breite der abdominellen Aorta.

Das abdominelle Aortenaneurysma (AAA) wird definiert als eine Erweiterung des Querdurchmessers der abdominellen Aorta auf mehr als 3 cm. Dabei ist darauf zu achten, dass der ”normale“ Durchmesser der abdominellen Aorta von Alter, Geschlecht und der Körpergröße abhängig ist:

  • Der durchschnittliche abdominelle (infrarenale) Aortendurchmesser bei einem 25-jährigen Mann liegt bei 1,75 cm,

  • bei einem 55-jährigen Mann bei 2,25 cm [1] [2].

Grundsätzlich sind Männer bis zu 10-mal häufiger betroffen als Frauen. Das Prädilektionsalter beträgt beim AAA 75–84 Jahre. Die Prävalenz bei Männern liegt bei 12,5 %, bei Frauen bei 5,2 %. Die Prävalenz zwischen 45 und 54 Jahren beträgt für Männer 1,3 % und für Frauen 0,4 % [3].

Da die Aorta von Herrn A. ungewöhnlich breit ist, wurden Kontrast-CT-Bilder angefertigt. Sie beweisen das bereits Vermutete: Ein infrarenales sacciformes Aortenaneurysma mit einem Durchmesser von 5,3 cm.

Ab einem Durchmesser von 5,0 cm wird durch das Rupturrisiko und die damit verbundene hohe Letalität (> 50 %) die Situation kritisch. Da die Letalität einer Aneurysmaruptur ab 5,5 cm Durchmesser die perioperative Letalität eines Elektiveingriffs übersteigt, ist ab hier die Indikation zur Intervention gegeben [4].

An dem Fall sind mittlerweile Ärzte aus 4 Fachgebieten beteiligt (Neurochirurgie, Radiologie, Gefäßchirurgie, Anästhesie). Nach intensiver Konferenz wird folgende Vorgehensweise bei Herrn A. festgelegt: Zunächst soll Herr A. (der als weitere Nebenerkrankungen eine arterielle Hypertonie aufweist sowie eine bekannte koronare Herzkrankheit bei NYHA II–III, eine mittelgradige Karotisstenose und eine Hypercholesterinämie) durch Analgesie soweit stabilisiert werden, bis die Schmerzfreiheit erreicht wird. Darauf folgend soll eine elektive endovaskuläre Versorgung mittels EVAR erfolgen (EVAR = endovascular aortic aneurysm repair).

Bei der EVAR wird der endovaskulär eingeführte Endograft so platziert, dass dieser sich proximal und distal des Aneurysmas selbstexpandierend an die Innenwand legt. Voraussetzung zur sicheren Endograftplatzierung und somit zur erfolgreichen EVAR-Therapie sind ausreichend breite proximale und distale Verankerungsbereiche (”Landungszonen“), welche frei von Thromben und Kalzifikationen sein müssen.

Die Versorgung der Spinalkanalstenose von Herrn A. wurde mit Einverständnis der Neurochirurgen bis auf Weiteres vertagt. Sowohl die unmittelbare Schmerztherapie als auch die Vorbereitung auf den elektiven Eingriff wurden daraufhin in den Verantwortungsbereich der anästhesiologischen Abteilung übertragen. Diese entschloss sich, bei der Operation von Herrn A. eine Allgemeinanästhesie durchzuführen.

Die Wahl des Anästhesieverfahrens orientiert sich mitunter an der sicheren Platzierung des Endografts. Bei der Durchführung der EVAR in einem AAA wären grundsätzlich möglich:

  • eine Lokalanästhesie,

  • eine Regionalanästhesie mittels rückenmarksnaher Verfahren sowie

  • eine Allgemeinanästhesie [4].

Ist nur die solitäre Platzierung des Endografts geplant, kann dies unter gewissen Voraussetzungen (Nebenerkrankungen, hämodynamische Stabilität) durchaus in einer Lokalanästhesie durchgeführt werden. Sind zusätzliche Maßnahmen wie Cross-over-Bypässe oder ausgedehnte Freilegungen der Leiste notwendig, empfiehlt sich alleine schon durch die Operationsdauer eine rückenmarksnahe Regionalanästhesie oder gar die Allgemeinanästhesie.

Der mittlerweile schmerzfreie Herr A. wird 3 Tage nach Einlieferung nach ausreichender Prämedikation (Dikaliumchlorazepat und 20 mg Simvastatin zur Nacht, Midazolam 7,5 mg p. o. 30 min vor Abruf, 10 mg Bisoprolol am Morgen) zur Einleitung in den gefäßchirurgischen Saal gebracht.

Da durch Angstreaktionen sowohl überschießende Blutdruckwerte als auch myokardiale Ischämien auftreten können, ist eine gute Prämedikation von essenzieller Bedeutung bei der Vorbereitung auf die Operation.

Alternativ zu dem Midazolam kann auch eine präoperative orale Gabe von Clonidin (2–4 μg/kg KG) in Erwägung gezogen werden. Clonidin hat nicht nur einen guten sedierenden Effekt, sondern

  • vermindert auch die Grundherzfrequenz, senkt den introperativen Anästhetikabedarf und

  • reduziert intraoperative Herzfrequenzschwankungen [4].

Eine vorbestehende Betablocker- oder Statindauermedikation soll nach den aktuellen Leitlinien der AHA weitergeführt werden. Wenn keine Dauermedikation von Statinen oder Betablockern vorbesteht, ist ein präoperativer Therapiebeginn gerechtfertigt [3] [4] [5]. Bei der Neuansetzung der Betablocker-Therapie ist zu beachten, dass diese optimalerweise bei elektiven Eingriffen Wochen im Voraus begonnen wird. Unmittelbar vor dem Eingriff begonnene Betablocker-Therapien scheinen sowohl das Schlaganfallrisiko als auch die Letalität zu erhöhen [6].

Nach Beginn des Standardmonitorings (5-lead-EKG, NiBP, SpO2) erfolgte bei Herrn A. die Anlage einer Wacharterie am kontralateralen Arm der NiBP-Messung. Die weitere eher opiatbestimmte Narkoseeinleitung (0,4 mg Fentanyl, 100 mg Propofol) mit der anschließenden Kanülierung der Vena jugularis interna dextra (ZVK + Schleuse) verlief problemlos.

Trotz der endovaskulären Strategie ist die Möglichkeit der intrainterventionellen Aneurysmaruptur nicht zu vernachlässigen (Inzidenz 0,7 %) [5]. Die Inzidenz der Konversion von endovaskulärer zur offen-chirurgischen Intervention wird in der Literatur mit unter 2 % beschrieben [4]. Daher ist bei der Einleitung auf eine adäquate Kanülierung für den Fall einer Konversion zu achten.

Intraoperativ wurde zudem eine kontinuierliche ST-Strecken-Analyse durchgeführt. Während der Platzierung des Endografts (4 min) benötigt Herr A. 300 μg Nitroglyzerin titriert intravenös.

Während der zuvor beschriebenen Entfaltung des Endografts in der Aorta kommt es kurzzeitig zu einer abrupten Widerstandserhöhung im Gefäßlumen (”Windsackeffekt“). Es kommt zuweilen auch vor, dass der Endograft per intraluminaler Ballondilatation an die Gefäßwand anmodelliert werden muss. In beiden Fällen birgt diese schlagartige Erhöhung des intraluminalen Widerstandes die Gefahr der Distalverschiebung des Endografts. Um dies zu verhindern, sollte daher in dieser speziellen Phase der Intervention der mittlere arterielle Druck auf Werte zwischen 50–60 mmHg gesenkt werden – wenn nötig auch medikamentös (z. B. mit Nitroglyzerin, Narkosevertiefung) [4] [5].

Trotz des endovaskulären Eingriffs betrug der intraoperative Flüssigkeitsbedarf von Herrn A. bei einem Blutverlust von 150 ml ca. 2,5 l. Der weitere intra- und perioperative Verlauf gestaltete sich problemlos, sodass Herr A. nach 5 Tagen Aufenthalt in die Rehabilitation entlassen werden konnte. Dort begannen am 2. Tag jedoch wieder seine Schmerzen in der Lumbalregion.

Fazit

  • Die Symptomatik des abdominellen Aortenaneurysmas (AAA) ist wie ein Wolf im Schafspelz. Bei plötzlich beginnenden starken Rücken- /Bauchschmerzen im Rettungsdienst ist stets an AAA zu denken!

  • Ab einem Querdurchmesser von 5,5 cm übersteigt die Rupturgefahr die perioperative Letalität eines Elektiveingriffs.

  • Gute Prämedikation ist von essenzieller Bedeutung.

  • Die Wahl des Anästhesieverfahrens orientiert sich mitunter an der operativen Strategie.

  • Seien Sie stets für eine intraoperative Konversion von endovaskulären zu offenen Verfahren gewappnet.

  • Der MAP sollte während der Entfaltung des Endografts bei der EVAR-Therapie bei 50–60 mmHg liegen.

Beitrag online zu finden unter http://www.dx.doi.org/10.1055/s-0032-1307464

Ergänzendes Material

 
  • Literaturverzeichnis

  • 1 Svensjö S, Bengtsson H, Bergqvist D. Thoracic and thoracoabdominal aortic aneurysm and dissection: an investigation based on autopsy. Br J Surg 1996; 83: 68-71
  • 2 Young R, Ostertag H. Incidence, etiology and risk of rupture of aortic aneurysm. An autopsy study. Dtsch Med Wochenschr 1987; 112: 1253-1256
  • 3 Espinola-Klein C, Neufang A, Düber C. Infrarenal aortic aneurysm. Internist quiz 2008; 49: 965-966
  • 4 Knapp J, Bernhard M, Rauch H, Hyhlik-Duerr A, Bockler D, Walther A. Anästhesiologisches Vorgehen bei elektiven Eingriffen an der Aorta. Anästhesist 2009; 58: 1161-1182
  • 5 Greenhalgh RM, Brown LC, Kwong GP, Powell JT, Thompson SG. EVAR trial participants. Comparison of endovascular aneurysm repair with open repair in patients with abdominal aortic aneurysm (EVAR trial 1), 30-day operative mortality results: randomised controlled trial. Lancet 2004; 364: 843-848
  • 6 POISE Study Group. Devereaux PJ et al. Effects of extended-release metoprolol succinate in patients undergoing non-cardiac surgery (POISE trial): a randomised controlled trial. Lancet 2008; 371: 1839-1847