Z Sex Forsch 2012; 25(3): 293-294
DOI: 10.1055/s-0032-1313196
Nachruf
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Elisabeth Müller-Luckmann

16. Oktober 1920–6. Juli 2012
Gunter Schmidt
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 September 2012 (online)

Elisabeth Müller-Luckmann war die Nestorin der deutschen forensischen Psychologie. Sie habilitierte sich in den 1950er-Jahren mit einer Arbeit „Über Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugenaussagen bei Sexualdelikten“, etablierte die „Forensische Psychologie“ als Lehr- und Forschungsbereich an der TU Braunschweig, begründete die Fachgruppe „Rechtspsychologie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und war in fünf Jahrzehnten in mehr als 1000 Gerichtsverfahren als Gutachterin tätig. Sie erhielt öffentliche Auszeichnungen für ihr Engagement in der Rechtspsychologie, u. a. die Beccaria-Medaille der Kriminologischen Gesellschaft, die Hugo-Münsterberg-Medaille des Berufsverbandes deutscher Psychologinnen und Psychologen und das Verdienstkreuz 1. Klasse des Niedersächsischen Verdienstordens.

Sie begutachtete in großen Kriminalfällen, die das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zogen – Fritz Honka, Jürgen Bartsch, Monika Weimar/Böttcher, Marianne Bachmeier –, und natürlich in vielen alltäglichen, medial unbeachtet gebliebenen Verfahren. Immer wollte sie, wie sie einmal sagte, verstehen und erklären, „wie es dazu kam“. Sie konnte in erstaunlicher Weise komplexe psychologische Zusammenhänge ohne Fachjargon und für jedermann nachvollziehbar darstellen, eine Fähigkeit, die ihren Erfolg als Forensikerin vor Gericht, aber auch in den Medien ausmachte.

Im Zentrum ihres forensischen Interesses standen Sexual- und Beziehungsdelikte. Wohl deshalb trat sie schon in den 1950er-Jahren der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung bei. 1962 war sie die erste Frau im Vorstand, 1970 wurde sie die erste Präsidentin der DGfS und blieb dies fünf Jahre lang. Ihr Amt trat sie in schwierigen Zeiten an und führte es erfolgreich. Sie folgte Hans Giese, der die Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik nach dem Krieg wieder aufzubauen versuchte und 1970 früh verstarb, im Vorsitz der DGfS. Die Sexualwissenschaft war damals noch nicht akademisch etabliert. Als Müller-Luckmann den Vorsitz an die jüngere Generation abgab, waren die sexualwissenschaftlichen Abteilungen an den Universitätskliniken Hamburg und Frankfurt am Main gegründet und deren Direktoren Eberhard Schorsch und Volkmar Sigusch berufen worden. Nach dem Kongress der DGfS im Jahr 1978 verließ Elisabeth Müller Luckmann die Gesellschaft mit Aplomb. Sie war empört über die ruppige Form der Auseinandersetzungen in fachlichen und (sexual)politischen Fragen innerhalb der DGfS. Sie erteilte uns jungen autoritär-antiautären Sexualforschern (die männliche Form ist hier bewusst gewählt) eine Lektion, die wir auch in späteren Jahren nicht immer beherzigten. Vermutlich ist es der Initiative Martin Danneckers zu verdanken, dass Elisabeth Müller Luckmann während seiner Zeit als Erster Vorsitzender in den 1980er-Jahren in die DGfS zurückkehrte.

Nach ihrer Emeritierung hatte sie die Muße, Kriminalromane zu schreiben, und den Mut, psychologische Ratgeber zu verfassen. Ihre Krimis („Mrs. Chivers Tod“, 1988; „Ich habe ihn getötet“, 1992) sind spannende kriminalpsychologische Unterweisungen. Ihre Ratgeber waren ungewöhnlich erfolgreich. „Die große Kränkung“, ein Buch für Getrennte und Verlassene, erschien zwischen 1985 und 1998, allein die Taschenbuchauflage bei Rowohlt wurde mehr als 40 000 Mal verkauft. In ihrem letzten Buch „Lügen habe viele Beine“ (1998, 2000) tat sie etwas, das nur wenige Hochschullehrer ihrer Generation gewagt haben: Sie schilderte ihre Kindheit, Jugend und Studienjahre im Nationalsozialismus. Ein langes Interview mit Alice Schwarzer über ihre forensische Arbeit, das im Frühjahr 2009 in der „Emma“ unter dem Titel „Menschenwürde bleibt auf der Strecke“ erschien, ist der letzte größere Auftritt Elizabeth Müller-Luckmanns in der Öffentlichkeit. Und die damals 88-Jährige präsentiert sich hier, wie man sie kannte und mochte: kämpferisch, eloquent und meinungsstark.

Elisabeth Müller-Luckmann studierte, promovierte, habilitierte und lehrte bis zu ihrer Emeritierung an der TU Braunschweig, dann zog sie nach Berlin. Dort starb sie am 6. Juli dieses Jahres im Alter von 91 Jahren.