Der Klinikarzt 2012; 41(4): 161
DOI: 10.1055/s-0032-1313795
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

JASAGER UND NEINDENKER – Ärzte, die stets durchblicken und Patienten, die immer ihre Medikamente nehmen: Naivität auf Augenhöhe

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
02 May 2012 (online)

Im Krankenhaus wie in der Arztpraxis wird in der klassischen Arzt-Patienten-Interaktion nahezu jede Krankheit die Verordnung eines Medikamentes nach sich ziehen. Bei einem Arzneimittel bleibt es allerdings selten. Siebzigjährige nehmen durchschnittlich 7 Medikamente ein – und das entspricht durchaus den Leitlinien. Dass diese Medikamente alle um dieselben Abbauenzyme in der Leber und/oder die renale Elimination konkurrieren, ahnen die Patienten, wenn sie Beipackzettel lesen oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen googeln. Dennoch, Studien belegen es: nahezu alle Patienten trauen ihren Ärzten die Einschätzung von Arzneimittelinteraktionen zu. Bei den unerwünschten Wirkungen, so genannten Nebenwirkungen, sind die Behandelten schon kritischer. Hier kommt es nicht selten zur Selbstindividualisierung der Medikamente nach dem Lesen der Patienteninformationen. Zahlreiche Studien belegen ein besorgniserregendes Problem: die mangelnde Therapietreue.

Um den Überblick zu wahren, wird Patienten in der Klinik jeden Morgen ein Plastikkästchen auf den Nachttisch gestellt, in dem die bunte Tagesration übersichtlich unter Klarsichtdeckeln nach Einnahmezeiten geordnet ist. Auch zu Hause erfreuen sich solche Erinnerungs- und Dosierhilfen großer Beliebtheit. Doch so wohlgeordnet, wie es den Anschein hat, geht die Einnahme der verordneten Medikamente in vielen Fällen nicht über die Bühne. Die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen zur Adherence (Compliance, Therapietreue) von Patienten bezüglich der medikamentösen Therapie sind erschütternd. Das zeigen unter anderem Beispiele von onkologischen Patienten, bei denen es immerhin um lebensverlängernde und lebenserhaltende Therapien geht: Patientinnen mit hormonabhängigen Mammakarzinomen berichteten auf Nachfrage zu fast 98%, Tamoxifen wie verordnet einzunehmen. Wurde diese Aussage durch Nachzählen der verbrauchten Tabletten überprüft, ergab sich eine Therapietreue von 92%. Ein elektronisches Überprüfungssystem, bei dem das Öffnen der Verpackung registriert wird, ließ die Adherence auf 85% sinken [1]. Das heißt im Umkehrschluss, dass jede siebte Patientin das Tamoxifen nicht wie vom Arzt vermutet einnahm. In einer neueren Studie berichteten 55% der Brustkrebspatientinnen unter Hormontherapie, öfter oder gelegentlich die Einnahme ihrer Medikamente zu versäumen [2]. Meistens aus Versehen, doch immerhin jede sechste dieser nicht adhärenten Patientinnen nahm die Mittel absichtlich nicht ein.

Hier gelangt man an einen Punkt, wo die ärztliche Aufklärung und Überzeugungskraft hinterfragt werden müssen. Was bewegt Patienten dazu, vom Arzt verordnete Arzneimittel nicht einzunehmen? Der abschreckende Effekt des Beipackzettels mit der Auflistung sämtlicher potenzieller Nebenwirkungen ist hinlänglich bekannt. Dieser Aspekt entfällt zumindest bei den im Krankenhaus an die Patienten verteilten Arzneimitteln (sofern der Beipackzettel vom Krankenbett aus nicht gegoogelt wird). Doch Ärzte unterschätzen mit Sicherheit, dass ihre Patienten oft eine ganz eigene Auffassung von ihrer Krankheit haben, die sich mitnichten mit der des Arztes deckt. Abweichende Krankheitsauffassungen betreffen die Kausalität der Erkrankung und die Überzeugung, welche Faktoren sie bessern oder verschlimmern könnten. Gestellte Diagnosen werden angezweifelt, erfolgreiche oder erfolglose Therapien vermeintlich identischer Erkrankungen im Familien- und Freundeskreis als Bewertungskriterium herangezogen. Die Unfähigkeit vieler Ärzte, Patienten auch mit niedrigem Bildungsniveau oder kognitiven Einschränkungen Therapiekonzepte plausibel zu machen, tut ein Übriges. Nicht zu unterschätzen ist auch der Aspekt der ”Pillenmüdigkeit“, oder, wie ein Patient es ausdrückte, der seine Dauermedikation abgesetzt hatte: ”Ich fand, ich brauchte einfach mal eine Pause“. Therapien, bei denen nicht die Symptombesserung realer Beschwerden im Vordergrund steht, so zum Beispiel sämtliche adjuvante Tumortherapien, aber auch die Behandlung des asymptomatischen Hypertonus, führen besonders häufig zu Non-Adherence. Belastende unerwünschte Wirkungen, die dem Arzt im Rahmen seiner Nutzen-Risiko-Bewertung akzeptabel erscheinen mögen, sind für Patienten möglicherweise inakzeptabel, weil ihre ganz persönliche Schaden-Nutzen-Bilanz anders ausfällt.

Es ist naiv, regelmäßig davon auszugehen, dass Patienten Diagnose und Therapie für richtig halten. Möglicherweise lassen sie ihre Skepsis oder gegenteilige Überzeugung nicht erkennen, akzeptieren scheinbar die Verordnung und thematisieren auch in der Folge nicht ihre Zweifel und ihre mangelnde Therapietreue. Eine unerklärlicherweise unwirksam bleibende Behandlung ist mit Sicherheit öfter als vermutet darauf zurückzuführen, dass die Medikation nicht eingehalten wird. Es ist gut vorstellbar, dass dies auch in nennenswertem Umfang bei stationären Patienten der Fall ist. Wenn abends die leeren Medikamentenbehälter eingesammelt werden, weiß in Wahrheit niemand, ob die Tabletten im Magen des Patienten oder im Mülleimer gelandet sind. Da hilft nur, bei jedem Patienten an die Möglichkeit der Non-Adherence zu denken und: nachzufragen. Nicht im Sinne einer inquisitorischen Prüfung, ob der Patient therapietreu war – sondern eher im Sinne eines Hinterfragens, ob er aus irgendwelchen Gründen Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Verordnung hat. Manchmal sollen diese ja sogar begründet sein.

Prof. Dr. med. Günther J. Wiedemann, Ravensburg

 
  • Literatur

  • 1 Waterhouse DM et al. Adherence to oral tamoxifen. JCO 1993; 11: 1189-1197
  • 2 Atkins L, Fallowfield L. Intentional and non-intentional non-adherence to medication amongst breast cancer patients. Eur J Cancer 2006; 42: 2271-2276