Suchttherapie 2012; 13(03): 142-143
DOI: 10.1055/s-0032-1316369
Leserbrief
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Publication Date:
05 September 2012 (online)

Strukturierter Clomethiazol – Einsatz in einer spezialisierten Praxis

Einleitung

Clomethiazol ist ein vorwiegend GABA-erges Thiazolderivat. Es ist unter dem Handelsnamen Distraneurin® zur Behandlung von Prädelir, Delirium tremens und akuter Entzugssymptomatik zugelassen. In dieser Indikation ist es in einer Reihe von Studien bewährt und wird in vielen Kliniken als Mittel der Wahl eingesetzt [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]. 2005 wurde diese Zulassung allerdings wegen des Abhängigkeits- oder Missbrauchspotenzials und lebensgefährlich geringer therapeutischer Breite im Fall von Mischintoxikationen mit Alkohol [8] auf „kontrollierte stationäre Bedingungen“ eingeschränkt. Weil sich nur ein Bruchteil von Abhängigkeitsbehandlungen stationär abspielt und auch Entzüge mehrheitlich ambulant möglich sind, ist das für die Praxis von Bedeutung.

Die Schäden und der schlechte Ruf des Clomethiazols sind Folge einer weit verbreiteten (Un-)Art der Clomethiazol-Verschreibung: Rezepte für eine ganze Packung á 25 oder 100 Kapseln ohne näheres Konzept, mit ungenauen oder fehlenden Dosisangaben und ohne Behandlungsstruktur. Die Patienten verfügen dann über Distraneurin in großer Menge. Sie setzen es auch falsch ein: nur um weniger und nicht, um gar nicht zu trinken. Dabei kommt es zu den gefährlichen Mischintoxikationen. Weil diese Phänomene relativ häufig vorgekommen sind, hat man die Ärzteschaft für unfähig gehalten, diese Probleme zu lösen und dem Präparat die ambulante Zulassung entzogen.

Der Problemlösungsversuch wurde aber nie systematisch unternommen. Es gibt auch noch keine normal entwickelte Struktur einer ambulanten Suchtmedizin. Bemüht man sich um eine solche Struktur, macht man ganz andere Erfahrungen. Dann muss die Einschränkung neu überdacht werden.

Dass Medikamente gefährlich sein können, ist in der Medizin nichts Ungewöhnliches. Man begegnet diesen Gefahren mit angemessenen Vorsichtsmaßnahmen. Nichts Anderes haben wir mit der Clomethiazol-Verordnung getan:

  • Wir verschreiben es grundsätzlich nur im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzeptes mit regelmäßigen, eingehenden Gesprächen und der nötigen körperlichen Diagnostik.

  • Es gibt immer einen schriftlichen Dosisplan und Einnahme nach Plan statt nach Bedarf.

  • Anhand des Plans, der auch als Buchführungsgrundlage verwendbar ist, wird Clomethiazol nur für begrenzte Zeiträume zugeteilt, beim ambulanten Alkoholentzug meist nur bis zum nächsten Tag.

  • Alle Patienten werden eingehend und immer wieder über 2 Grundsätze informiert:

  1. Clomethiazol ist KEIN Medikament, um WENIGER zu trinken, sondern nur, um gar nicht zu trinken. Alle Patienten wissen, dass eine Kombination mit Alkohol schnell hoch gefährlich werden kann. Nebenbei: Eine solche Erklärung klingt für die Patienten viel annehmbarer als: „Absolutes Alkoholverbot“.

  2. Aus dem gleichen Grund wissen sie den zweiten Grundsatz: Dass Clomethiazol nicht gehortet werden darf. Immer wieder wird darauf hingewiesen und entsprechend nachgefragt.

Auf diese Weise erweist sich Clomethiazol als ein hervorragendes, gut wirksames und sicheres Medikament. Unsere Erfahrung umfasst in mehr als 20 Jahren [9] mehr als 1 000 ambulante Alkoholentzugsbehandlungen und 42 Behandlungen, in denen Clomethiazol länger als 6 Wochen lang eingesetzt wurde. Als alleinige Langzeitbasismedikation diente es nur bei 3 Patienten und damit viel seltener als das dafür besser geeignete Dihydrocodein [10] [11]. Mehrheitlich erfolgt seine Verschreibung über längere Zeiträume als Zusatz zu einer anderen Basismedikation wie Baclofen oder Opioiden.

Ambulante Entzüge bieten wir an, wenn Anamnese, körperliche Befunde (einschließlich Blut/EKG) und der Gesamteindruck keine Kontraindikationen ergeben. In der Regel vereinbaren wir eine Woche lang täglich Sprechstunden, in denen ein individueller Medikamentenplan erstellt und täglich aktualisiert wird. Die Patienten erhalten aus der Apotheke immer nur die bis zur nächsten Sprechstunde benötigten Medikamente.

Der schriftliche Einnahmeplan dient zugleich einer ständigen Buchführung, deren Vorlage wir in der Sprechstunde erbitten. Dort wird auch nach dem Verlauf seit der letzten Sprechstunde, der Schlafqualität, dem Suchtdruck und aktuellen Befinden gefragt, und es werden kurz Vitalparameter wie Blutdruck und Puls kontrolliert. In der Clomethiazol-Dosis bleiben wir deutlich niedriger als stationär, setzen maximal 5 Kapseln/Tag ein, oft sind es nur 3.

Die Akzeptanz übersteigt die eines stationären Entzuges um ein Vielfaches. Die Notwendigkeit, für einen Entzug stationär einzuweisen, hat sich auf unter 10% unserer alkoholentzugsbedürftigen Patienten reduziert. Die Abbruchquote liegt bei 5%. Eine Befragung nach einer Woche, wie der Entzug mit den Noten 1–6 bewertet wurde, ergab: 86% gaben die Noten 1–3, 62% sogar die Noten 1–2. Die Frage, wie stark das Verlangen nach Alkohol während des Entzugs war, wurde noch etwas positiver beantwortet. 27% gaben hier eine 1. Das gesamte Setting und speziell Clomethiazol haben wir in diesem gut strukturierten Rahmen nie als gefährlich erlebt. Stationäre Noteinweisungen aus dem ambulanten Entzug heraus sind Raritäten und liegen in der Größenordnung von 1%.

Die Tatsache, dass der Entzug ambulant statt stationär angeboten wurde, hat in zahllosen Fällen dazu beigetragen, dass überhaupt ein Entzug durchgeführt und eine Gesamtbehandlung eingeleitet wurde. Der ambulante Alkoholentzug erscheint uns daher als essentielles suchttherapeutisches Angebot, zu dessen Qualität so strukturiert eingesetztes Clomethiazol einen wichtigen Beitrag leistet.

Allerdings gehört es zum chronisch rezidivierenden Charakter der Abhängigkeitserkrankung, dass die Krankheitssymptome häufig irgendwann wiederkehren, auch weil noch keine wirklich überzeugende Basismedikation verfügbar ist. Entsprechend muss oft wieder und wieder entzogen werden, was immer besser ist, als einfach weiter trinken zu lassen. Von den Patienten, die bei uns einmal einen ambulanten Entzug durchgemacht haben, haben sich ihm bisher 41,2% ein zweites Mal, 25,9% ein drittes Mal, 5,9% ein achtes Mal unterzogen. Es geht bisher bis zu 20 Wiederholungen, die alle einen hohen Sinn machen. Asthma-Exazerbationen müssen auch immer wieder gezielt behandelt werden.

Nach dem Entzug haben wir zunächst gelernt, dass mehr Abstinenzstabilität erreicht wird, wenn Clomethiazol nicht sofort, sondern langsamer, über etwa 2–6 Wochen ausgeschlichen wird. In Einzelfällen, vor allem nach wiederholten „Einbrüchen“ bei Versuchen ohne Medikation, hat es sich als sinnvoll erwiesen, Clomethiazol über längere Zeit zu verschreiben, immer mit den o. g. Grundsätzen: keine Kombination mit Alkohol, keine Hortung, woran die Patienten ständig erinnert werden. Wir verschreiben dabei maximal 3 Kps á 192 mg/Tag und arbeiten mit wöchentlicher Zuteilung, bei 3 Kps also 21 Kps pro Woche (in einem Fall kurzfristig 4 Kps/Tag). Da es sich um einen „off label use“ handelt, wird Clomethiazol dabei nicht zu Lasten der GKV verordnet. Die Patienten werden darüber und über die Risiken der Behandlung aufgeklärt.

Die spürbare Ernsthaftigkeit der Patienten, sich daran zu halten, ist Voraussetzung dafür, die Verordnungs-Verantwortung als Arzt weiter übernehmen zu können. Sie ist nur teilweise in objektiven Parametern zu sichern und elementar auf eine gut strukturierte, eingehende Beziehung zwischen Arzt und Patient angewiesen [12].

Die einmal gefundene Dosis erwies sich über einen langen Zeitraum als völlig ausreichend. Kein Patient wünschte, die Dosis über den genannten Bereich von 1–4 Kps zu steigern.

Bei der Mehrzahl der Behandlungen ist eine sehr allmähliche Dosisreduktion problemlos möglich. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, diese Abdosierungsschritte bei den regelmäßigen Sprechstunden lange vorher zu vereinbaren, sodass sich die Patienten darauf einstellen und alles gut mittragen können.

Die 3 Patienten, bei denen Clomethiazol in der beschriebenen Weise als alleinige Langzeitbasismedikation eingesetzt wird, profitieren eindrucksvoll: Ein Patient, der 8 medizinisch gestützte Entzüge und eine „Therapie“ hinter sich hat, jetzt seit fast 7 Jahren unter täglich 2 Kps. Clomethiazol, ist seit 4,5 Jahren stabil rückfallfrei. Die zweite Patientin hat 11 medizinisch gestützte Entzüge und 3 „Therapien“ hinter sich. Unter meist nur 1, selten 2 Kapseln Clomethiazol Tag ist sie seit 7 Jahren rückfallfrei. Bei der dritten Patientin haben 2 Jahre Clomethiazol nach 42 Jahren übermäßigen Trinkens 6 Jahre ununterbrochener Abstinenz eingeleitet.

Unseres Erachtens ist mit der zurückgenommenen Zulassung für ambulante Einsätze „das Kind mit dem Bade“ ausgeschüttet worden. Clomethiazol ist eine wertvolle Substanz, wenn sie auf einfache Weise strukturiert eingesetzt wird. Wir könnten ohne sie vielen Alkoholabhängigen weit schlechter helfen. Die Frage, die gesamte Suchtmedizin anders und viel besser zu strukturieren, stellt sich immer wieder. Andere Länder zeigen uns eindrucksvoll, dass man Suchtmedizin hervorragend ambulant in die Hände vieler Hausärzte legen kann (betr. Alkohol z. B. [13]). Gefährlicher als Phenprocoumon (Marcumar®) ist es auch nicht, und auch da war es möglich, gute, selbstverständliche Standards zu etablieren (z. B. [14]).
A. Ulmer


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  • Literatur

  • 1 Bonnet U, Lensing M, Specka M et al. Comparison of two oral symptom-triggered pharmacological inpatient treatments of acute alcohol withdrawal: clomethiazole vs. clonazepam. Alcohol Alcohol 2011; 46: 68-73
  • 2 Hillemacher T, Weinland C, Heberlein A et al. Treatment with clomethiazole is associated with lower rates of premature discharge during alcohol withdrawal. Pharmacopsychiatry 2008; 41: 134-137
  • 3 Croissant B, Mann K. Alkoholentzug und seine Behandlung. Ther Umsch 2000; 57: 257-260
  • 4 Lange-Asschenfeldt C, Müller MJ, Szegedi A et al. Symptom-triggered versus standard chlormethiazole treatment of inpatient alcohol withdrawal: clinical implications from a chart analysis. Eur Addict Res 2003; 9: 1-7
  • 5 Lucht M, Kuehn KU, Armbruster J et al. Alcohol withdrawal treatment in intoxicated vs non-intoxicated patients: a controlled open-label study with tiapride/carbamazepine, clomethiazole and diazepam. Alcohol Alcohol 2003; 382: 168-175
  • 6 Zilker T. Alkoholentzugssyndrom und Delirium tremens. Diagnose und Therapie. MMW Fortschr Med 1999; 141: 26-30
  • 7 Nimmerrichter AA, Walter H, Gutierrez-Lobos KE et al. Double-blind controlled trial of gamma-hydroxybutyrate and clomethiazole in the treatment of alcohol withdrawal. Alcohol Alcohol 2002; 37: 67-73
  • 8 Warnende Hinweise zur Verschreibung von Clomethiazol (Distraneurin) . Diskussionsbeiträge und Autorenschlusswort zum Beitrag von D. Färber und R. Tölle in 33/96. Dt. Ärzteblatt 1997; 94: A237-A243
  • 9 Ulmer A Ärztliche Behandlung von alkoholabhängigen Patienten in der Praxis – unser Vorgehen und die Begründung des DGDS-Symposiums, in: 5. Suchtmedizinischer Kongress der DGDS, 26.–27.10 1996, Kongressband 99-104
  • 10 Ulmer A, Müller M, Frietsch B. Dihydrocodeine for the Treatment of Alcohol Dependence. Heroin Addict Relat Clin Probl 2009; 11: 15-22
  • 11 Ulmer A, Müller M, Frietsch B. Dihydrocodeine/agonists for alcohol dependents. Frontiers in Psychiatry/Addict. Dis 2012; 3: 1-7
  • 12 Ulmer A. Suchttherapie ohne Vertrauen ist eine Sackgasse – Plädoyer für einen neuen Anfang des Vertrauens. Suchttherapie 2009; 10: 178-179
  • 13 Stockwell T, Bolt E, Hooper J. Detoxification from alcohol at home managed by general practitioners. Br Med J (Clin Res Ed) 1986; 292: 733-735
  • 14 Penning-van Beest FJ, Koerselman J, Herings RM. Risk of major bleeding during concomitant use of antibiotic drugs and coumarin anticoagulants. J Thromb Haemost 2008; 6: 284-290