Psychiatr Prax 2012; 39(05): 245-247
DOI: 10.1055/s-0032-1322340
Leserbrief
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Geschlossene psychiatrische Wohnheime – Anmerkungen zu einer Kontroverse über eine falsche Fragestellung

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Publication Date:
09 July 2012 (online)

 

Die Diskussion um geschlossene psychiatrische Wohnheime ist derzeit in vollem Gange. Verschiedene gemeindepsychiatrische Fachgesellschaften veranstalteten im vergangenen Jahr Symposien und Workshops. Insofern ist die Pro- und Kontra-Debatte zwischen Christian Reumschüssel-Wienert und Wolf Crefeld [ 1 ] in der ersten Ausgabe der Psychiatrischen Praxis des Jahres 2012 am Puls der Zeit.

Leider hat sie verantwortlich Handelnde der Gemeindepsychiatrie um keine Erkenntnis weitergebracht. Dass die gemeindepsychiatrische Pflichtversorgung für grenzüberschreitende psychisch kranke Menschen eine Herausforderung darstellt (Reumschüssel-Wienert), ist dem gemeindepsychiatrischen Praktiker bestens bekannt. Und dass auch die als behandlungsresistent bezeichneten Patienten ein Anrecht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben (Crefeld), bestreitet Reumschüssel-Wienert in keiner Zeile seines Plädoyers für geschlossene Heime. Er erwähnt sogar eine gangbare Alternative zur geschlossenen Tür, nämlich die "enge Begleitung".

Also, worüber streiten sich die beiden Autoren eigentlich? Oberflächlich betrachtet ausschließlich um einen Begriff: das geschlossene Wohnheim. Genauer betrachtet aber natürlich um ein Symbol: Die geschlossene Tür als Sinnbild des Zwangs als therapeutisches Mittel, der mit dem geschlossenen Wohnheim nun auch auf die Gemeindepsychiatrie und die Leistungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben übertragen werden soll. Was natürlich ein Widerspruch in sich ist und – hier ist Crefeld recht zu geben – mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nicht zu vereinbaren ist.

Aber, Zwang gehört zur Psychiatrie wie zum Leben überhaupt. Ein Teil der organisierten Psychiatrieerfahrenen gesteht dies durchaus ein [ 2 ]. Exklusion begleitet die Geschichte der psychiatrischen Institutionen in den letzten zwei Jahrhunderten. Allerdings entstand die Idee der Aussonderung von Menschen mit störendem Verhalten nicht – wie Crefeld argumentiert – im 18. Jahrhundert, sondern wesentlich früher in Siechenhäusern etc. Die psychiatrische Anstalt war eine Konsequenz darauf, dass die Menschen in der beginnenden Industriegesellschaft immer weniger in der Lage waren, ihre psychisch und geistig beeinträchtigten Angehörigen in den Haushalt zu integrieren [ 3 ]. Die Ausgrenzung aus der Gesellschaft setzte sich im Binnenraum der Anstalt fort. Mit verschiedenen Zwangsmaßnahmen – und insbesondere mit der langfristigen "Wegschließung" – wurde dem Problem der unheilbaren psychisch Kranken bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet.

Die Psychiatrie konnte die Bindung an die Notwendigkeit der geschlossenen Unterbringung nie mehr abschütteln. Der Erfolg der Psychopharmaka bei der Akutbehandlung hat die Suche nach nicht medikamentösen Betreuungsansätzen bei Langzeitverläufen wohl eher verhindert. Die Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die durch Leistungen der Eingliederungshilfe sichergestellt werden, waren im psychiatrischen Kontext als "Behindertenhilfe" mit einem Makel belegt. Die Leistungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Lebenwurden nie theoretisch reflektiert. Die Übernahme der Klassifikation von Behinderung durch die ICF, in der die Wechselwirkung zwischen persönlichen Faktoren und Umweltfaktoren berücksichtigt ist, verläuft in der Gemeindepsychiatrie sehr zögerlich [ 4 ]. Die Auseinandersetzung mit heilpädagogischen Ansätzen [ 5 ] findet in der Erwachsenenpsychiatrie überhaupt nicht statt. Insofern ist der Rückgriff auf die geschlossene Tür vor allem ein Ausdruck der Hilflosigkeit, die wiederum aus der therapeutisch-pädagogischen Theorielosigkeit der gemeindepsychiatrischen Einrichtungen zu erklären ist.

Klienten, die in einem gut entwickelten psychiatrischen Hilfesystem durch die Maschen der gemeindeintegrierten Wohneinrichtungen fallen, haben häufig die Einrichtung gewechselt und sich immer wieder auf andere Betreuungspersonen einstellen müssen. Sie haben meist mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause verbracht. Diese Erfahrungen haben sie entmutigt und ihrer Lebensperspektive beraubt, möglicherweise sogar traumatisiert. Sie erleben ihre Situation als hoffnungs- und ausweglos, sind deshalb gegenüber Veränderungen oft skeptisch und verharren lieber in den vertrauten Verhaltensmustern. Wenn man die Verläufe analysiert, stößt man unabhängig von der psychischen Grunderkrankung auf massive existenzielle Ängste, die mit unterschiedlichsten sozial unverträglichen Verhaltensweisen kompensiert werden und medikamentös nicht beeinflussbar sind. Diese Personen haben ein besonderes Sicherheitsbedürfnis und benötigen dann Menschen, die ihnen Rückhalt und Unterstützung bieten können. Explorationsverhalten und Lernen kann nur dann stattfinden, wenn eine sichere Bindung besteht. Für die Beziehungsgestaltung zwischen Klient und professioneller Bezugsperson bedeutet dies, den Klienten neue, sichere Bindungserfahrungen zu ermöglichen [ 6 ].

Eine Orientierungshilfe für den Umgang mit dieser Klientengruppe stellt ein in Baden-Württemberg durchgeführte Modellprojekt für Menschen mit geistiger Behinderung dar, das die geschlossene Tür durch engmaschige Begleitung ersetzt.

Ziel des Modellprojekts "Therapeutische Wohngruppen für geistig behinderte Erwachsene mit schwerwiegendem herausforderndem Verhalten in Baden-Württemberg" [ 7 ] war die Reduktion des herausfordernden Verhaltens sowie die (Wieder-)Eingliederung in die bestehenden Angebote der Eingliederungshilfe. Die Beeinflussung herausfordernder Verhaltensweisen war erfolgreich: im 2-Jahres- Verlauf mit halbjährigen Kontrollen konnte deren Häufigkeit bei jedem Messzeitpunkt signifikant gesenkt werden.

Weniger erfolgreich verlief hingegen die Reintegration in gemeindeintegrierte Wohnformen: Als möglich wurde die Reintegration zu Beginn bei 55% der Teilnehmer im Modellprojekt eingeschätzt, tatsächlich erfolgte sie bei 32% der Teilnehmer. Die Verbesserung der Steuerungsfähigkeit und der Absprachefähigkeit der Klienten sowie das Merkmal "WfbM-Fähigkeit" am Ende der Maßnahme in der Therapeutischen Wohngruppe (TWG) erhöhten die Chance der Wiedereingliederung, es konnte jedoch kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der Reduktion herausfordernder Verhaltensweisen und der Reintegration gefunden werden.

Die Diskrepanz zwischen erfolgreicher Reduktion herausfordernder Verhaltensweisen und wenig erfolgreicher Reintegration erklären die Autoren durch Merkmale der beteiligten Einrichtungen, insbesondere deren Offenheit bzw. Abgrenzung gegenüber der Gemeinde. Unterstützt wird das durch die Tatsache, dass eine der untersuchten Einrichtungen immerhin 95% der Klienten reintegrieren konnte, die Streuung also sehr hoch war. Darüber hinaus merken sie kritisch an, "dass es zu einer Verankerung der TWG in regionale Hilfesysteme (…) in der Laufzeit des Modellversuchs nicht gekommen" ist.

Die Ergebnisse der Evaluationsstudie bei Menschen mit geistigen Behinderungen zeigen, dass sich nicht nur geschlossene Türen negativ auf die Integration in die Gemeinde auswirken, sondern auch die Realität abgeschlossener Welten in Großinstitutionen. Das heißt, dass eine TWG die Schaffung einer Sonderwelt vermeiden und ihre Ziele weiterhin an den Hilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausrichten muss [ 8 ]. Es ist daher zu erwarten, dass die Erfolge einer TWG bei der Reduktion herausfordernder Verhaltensweisen dann in Erfolge bei der Reintegration münden, wenn eine Verankerung in das gemeindepsychiatrische Versorgungssystem existiert.

Im Landkreis Ravensburg, mit ca. 280000 Einwohnern, werden knapp 2000 Menschen mit seelischer Behinderung, die neben ärztlicher Betreuung zusätzliche psychosoziale Hilfen benötigen, nach dem Prinzip der Inklusion in der Gemeinde unterstützt. 80% der Hilfen werden ambulant erbracht, mit einer Ausnahme werden die Wohnheime dezentral mit einer maximalen Platzzahl von 5 Bewohnern inmitten der Gemeinde betrieben. Das Prinzip der Sozialraumorientierung ist umgesetzt, indem Nachbarschaften und Bürgerhelfer zu einer echten Integration in die jeweilige Gemeinde genutzt werden.

Gleichzeitig haben sich die Einrichtungsträger im Gemeindepsychiatrischen Verbund (GPV) vertraglich zur Versorgung aller chronisch psychisch kranken Menschen unabhängig von der Schwere der Erkrankung innerhalb des Landkreises verpflichtet. Da bei einem sehr kleinen Teil der Klienten mit chronisch psychischer Erkrankung die Integration in die Gemeinschaft erst dann erfolgreich gestaltet werden kann, wenn der Kreislauf zwischen erfolglosen Eingliederungsmaßnahmen und Klinikaufenthalten beendet wird, hat sich der GPV im Landkreis Ravensburg entschlossen, eine TWG mit 12 Plätzen aufzubauen. Die Kultur der trägerübergreifenden Zusammenarbeit ist so weit entwickelt, dass die gemeindeintegrierten Wohneinrichtungen weiterhin zuständig für die Klienten sind, wenn diese aufgrund schwerwiegend herausfordernden Verhaltens in der TWG aufgenommen werden.

Die TWG ist ein milieutherapeutisches Angebot, in dem eine hohe Betreuungsintensität zusammen mit entsprechender Räumlichkeit den Klienten den notwendigen Schutz bietet, um die Sicherheit zum Leben in einer nicht aussondernden Wohnform zurückzuerlangen. Nach unserer Überzeugung kann damit auf die dauerhafte Schließung der Wohngruppe verzichtet werden. In der Konzeptentwicklung spielt die Auseinandersetzung zwischen Klient und Personal die entscheidende Rolle. Dieses Verhandeln statt Aufoktroyieren soll nicht durch administrative Regelungen wie eine geschlossene Tür ersetzt werden. Die Diskussion über den Umgang mit nicht eingliederungsfähigen psychisch kranken Menschen sollte sich auf diesen Aspekt konzentrieren. Ansonsten wird die Gemeindepsychiatrie den Weg der Reinstitutionalisierung gehen.

Denn geschlossene Heime neigen immer zur Expansion.

Michael Konrad, Ravensburg
E-Mail:
michael.konrad@zfp-zentrum.de

 
  • Literatur

  • 1 Reumschüssel-Wienert C, Crefeld W. Geschlossene psychiatrische Wohnheime. Psychiat Prax 2012; 39: 4-6
  • 2 Höflacher R. Eine gewaltfreie Psychiatrie ist derzeit nicht praktikabel. Psychosoziale Umschau 2012; 27: 36-37
  • 3 Scull AT. Museums of Madness. The Social Organisation of Insanity in Nineteenth Century England. New York: St. Martin‘s Press; 1979
  • 4 Seidel M. Die ICF und ihr Potenzial für die Teilhabeförderung. In: Rosemann M, Konrad M, Hrsg. Handbuch BetreutesWohnen. Von der Heimversorgung zur ambulanten Unterstützung. Bonn: Psychiatrie Verlag; 2011: 325-339
  • 5 Fischer H, Renner M. Heilpädagogik. Heilpädagogische Handlungskonzepte in der Praxis. Freiburg: Lambertus; 2011
  • 6 Fischer U. Bindungstheoretische Impulse für eine inklusive Pädagogik – Ansätze zur Kompetenz- und Autonomieentwicklung in der heilpädagogischen Arbeit. Zeitschrift für Inklusion: 2010,1: http://www.inklusiononline.net/index.php/inklusion/issue/view/9 2010 1.
  • 7 Dieckmann F, Giovis C. Therapeutische Wohngruppen für geistig behinderte Erwachsene mit schwerwiegendem herausforderndem Verhalten – Evaluation eines Modellversuchs in Baden-Württemberg. In: Dieckmann F, Haas G, Hrsg. Beratende und therapeutische Dienste für Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten. Stuttgart: Kohlhammer; 2007: 83-118
  • 8 Rosemann M, Konrad M Hrs. Handbuch Betreutes Wohnen. Von der Heimversorgung zur ambulanten Unterstützung. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2011