Pneumologie 2012; 66(10): 616-617
DOI: 10.1055/s-0032-1325744
Leserbrief
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Gibt es Unterschiede in den gesundheitsschädlichen Wirkungen von Chrysotil- und Amphibol-Asbest?

Pneumologie 2012; 66: 497 – 506
M. Kentner
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Publication Date:
10 October 2012 (online)

Es ist längst überfällig, dass auch in Deutschland die Diskussion hinsichtlich der unterschiedlichen kanzerogenen Potenz der verschiedenen Asbestentitäten in Gang kommt. Eine derartige Debatte läuft in den USA und Kanada bereits seit über 20 Jahren. Insofern ist es zu begrüßen, wenn Baur und Coautoren dieses Thema aufgreifen.

1. Die relevante Weltliteratur zum angeschnittenen Thema umfasst jedoch mehrere tausend Artikel und kann in einer kurzen Übersichtsarbeit niemals vollständig berücksichtigt werden. Dennoch existieren ältere Reviews, die bei umfassender Diskussion erwähnt werden sollten. Hier ist insbesondere auf eine Publikation der US-amerikanischen Environmental Protection Agency [1] zu verweisen, eine Institution, die nicht gerade als industriefreundlich gilt. Dort wurde ein Risk-Assessment bezüglich der Kanzerogenität von Chrysotil und Amphibolasbesten unter Einbeziehung von 35 relevanten Studien realisiert. Dabei wurde für Amphibolexpositionen ein lung cancer potency factor berechnet, der fünfmal höher lag als bei Chrysotileinwirkungen. Für Pleuramesotheliome errechnete sich ein entsprechender Unterschied mit einem Faktor von knapp 100.

2. Diese neueren Erkenntnisse schaffen Implikationen hinsichtlich der wissenschaftlichen Begründung zur Legaldefinition der Berufskrankheit Nr. 4104. Dort wird bei Auftreten von Lungenkrebs und Kehlkopfkrebs in Zusammenhang mit einer beruflichen Asbestfaserstaubexposition u. a. gefordert, dass eine kumulative Expositionsdosis von mindestens 25 Faserjahren vorliegt. Ab dieser Schwelle soll eine Risikoverdoppelung hinsichtlich Lungenkrebs auftreten. In der Arbeit von Baur und Coautoren wird diese Dosis als Chrysotilbelastung dargestellt, was nicht richtig ist. Ausschlaggebend für die Ableitung der 25 Faserjahre waren epidemiologische Untersuchungen mit Mischexpositionen aus verschiedenen Industriezweigen. Die verwendeten Studien gehen aus BMAS ([2], Abb. 3) hervor. Für die Asbestzementindustrie wurde die Arbeit von Finkelstein [3] herangezogen. Hier bestanden Expositionen gegenüber Chrysotil und dem Amphibolasbest Krokydolith. Asbesttextilarbeiter waren in der Studie von Dement et al. [4] neben dem Weißasbest auch gegenüber Krokydolith exponiert. Seidman et al. [5] untersuchten Arbeiter aus der Asbestisolation. Hier spielte neben dem Chrysotil der Amphibolasbest Amosit eine wesentliche Rolle.

Die 25 Faserjahre in BK 4104 beziehen sich also nicht auf reine Chrysotilexpositionen, wie sie fast ausschließlich in Deutschland vorgekommen sind, sondern auf Kombinationseinwirkungen mit wesentlich höherer Kanzerogenität. Deswegen ist das bisher in entsprechenden BK-Verfahren praktizierte Konzept der undifferenzierten Faserjahreberechnung kritisch zu hinterfragen. Der Gesetzgeber sollte auch darüber nachdenken, ob die Legaldefinition von BK 4104 vor dem Hintergrund der bei uns üblichen Chrysotilexpositionen noch dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Abschneidekriterium der 25 Faserjahre keinen Eingang in die internationale Literatur gefunden hat.

3. Ein weiteres zu überprüfendes Paradigma ist die postulierte multiplikative und nicht additive Wirkung von inhaliertem Asbestfaserstaub in Kombination mit Tabakrauch. Mit dem multiplikativen Effekt wird begründet, dass beim Lungenkrebs trotz Tabakrauchabusus dennoch die Asbestexposition einen eigenständigen, unabhängigen Risikofaktor darstellt. Diese Zusammenhänge wurden allerdings auch an einem Kollektiv gewonnen, welches einer Mischexposition unterlag, die so in Deutschland nicht existent gewesen ist. Es handelt sich um eine Kohorte von Isolierern aus der amerikanischen Werftindustrie [6]. Die Arbeiter waren insbesondere gegenüber Amosit exponiert. Mittlerweile gibt es zahlreiche weitere Studien, welche dieser synkanzerogenen Wirkung nachgegangen sind. (Zusammenstellung in 2.). Die Ergebnisse sind nicht einheitlich. In diesen Untersuchungen wird nur selten die Asbestart benannt, oder aber es handelt sich um Mischexpositionen. Wegen der wesentlich niedrigeren Kanzerogenität des Chrysotils kann also der multiplikative Risikoansatz nicht ohne Weiteres auf deutsche BK-Fälle übertragen werden. Es ist zu vermuten, dass bei Chrysotilexpositionen nur eine additive Wirkung nachweisbar ist und damit die Asbestexposition ihre vom Rauchen unabhängige Wirkung verliert. Unter den Kautelen des nationalen Berufskrankheitenrechts würde damit unter BK 4104 eine ganze Reihe von Raucherkrebsen als Berufskrankheit anerkannt und auch entschädigt.

4. Die Autoren versuchen zum wiederholten Mal, das „Fahrerfluchtphänomen“ als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis zu etablieren. Danach soll die Chrysotilfaser bei tatsächlich nachgewiesener dramatisch niedriger Biopersistenz trotzdem kanzerogen wirken, bevor sie sich im biologischen Material auflöst. Doch es handelt sich beim Fahrerfluchtphänomen lediglich um eine Hypothese, die noch dazu durch neuere Forschungsergebnisse hinsichtlich der eingeschränkten Biopersistenz der Chrysotilfaser entkräftet wird. Deswegen findet sich das hit and run-Phänomen so gut wie gar nicht in der internationalen Asbestliteratur. Vielmehr mehren sich die Hinweise, dass es in Zusammenhang mit Chrysotilexpositionen zu einem run before ever hit-Effekt kommt. Wie so häufig gibt es hier natürlich auch Ausnahmen, beispielsweise das Overload-Phänomen mit Erschöpfung der Alveolarmakrophagenkapazität.

5. Befremdlich erscheint, dass in einer wissenschaftlichen Publikation Bezug genommen wird auf eine angebliche Monopolstellung eines Labors für Faseranalytik. Dabei entsteht der Verdacht, dass hier Marketing für die eigenen Laboreinrichtungen betrieben wird. Deswegen gibt die Schlussbemerkung im Artikel von Baur und Coautoren zu denken, wonach keine Interessenkollision bestünde.

In diesem Zusammenhang möchte ich versichern, dass meinerseits keinerlei Interessenkollision besteht. Meine Zuschrift stellt kein Plädoyer gegen ein generelles Asbestverbot dar, sondern sollte als Aufruf zur inhaltlich sauberen wissenschaftlichen Diskussion verstanden werden.

 
  • Literatur

  • 1 U.S. Environmantal Protection Agency (EPA). Report on the Peer Consultation Workshop to Discuss a Propoes Protocol to Assess Asbestos-Reöated Risk. Final Report 30.05.2003 EPA contract No. 68-C-98-148, Work Assignment 2003-05
  • 2 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) Hrsg. Wissenschaftliche Begründung zur Berufskrankheit Nr. 4114. Bekanntmachung des BMAS vom 1.2.2007. GMBl 2007; 23: 474
  • 3 Finkelstein MM. Mortality among long-term employees of an Ontario asbestos-cement factory. Brit J Ind Med 1983; 40: 138-144
  • 4 Dement JM, Brown DP, Okun A. Follow-Up Study of Chrysotile Asbestos Textile Workers: Cohort Mortality and Case-Control Analyses. Am J Ind Med 1994; 26: 431-447
  • 5 Seidman H, Selikoff IJ, Hammond EC. Short-Term Asbestos Work Exposure and Long-Term Observation. Ann N Y Acad Sci 1979; 330: 61-89
  • 6 Selikoff IJ, Hammond EC, Churg J. Asbestos exposure, smoking and neoplasia. J Am Med Assoc 1968; 204: 104-112
  • 7 Selikoff IJ, Hammond EC, Seidman H. Mortality Experience of Insulation Workers in the United States and Canada. Ann N Y Acad Sci 1979; 330: 91-116