PPH 2012; 18(05): 229
DOI: 10.1055/s-0032-1327010
PPH Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Brunos Welt – Ich sehe was, was Du nicht siehst...

Bruno Hemkendreis
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Oktober 2012 (online)

Herr Deisner leidet seit vielen Jahren an einer Psychose. Seine Frau, seine Kinder und sein gesamtes früheres Umfeld haben sich von ihm abgewendet. Wenn er einen akuten Schub hat, sind die Symptome äußerst beeindruckend. Er erzählt ununterbrochen Geschichten, die einem Fantasy-Schriftsteller zum Bestseller verhelfen würden. Ich habe viele Jahre in der Akutpsychiatrie gearbeitet, aber keinen zweiten Menschen erlebt, der solch ein Feuerwerk verrückter Wahrnehmungen und Ideen von sich gegeben hat wie Herr Deisner.

Er war seit einigen Tagen erneut auf unserer Station, mich hielt er für hochschwanger. Immer wenn ich eine Kiste Mineralwasser aus dem Vorratsraum holte, kam er gelaufen, riss mir die Kiste aus den Händen und meinte: „Sie gefährden Ihr ungeborenes Baby, wenn Sie schwer heben.“ (Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass ich ein Mann bin, seinerzeit noch Bart trug, aber keinen übermäßigen Bauch…).

Wie so oft während seiner stationären Krankenhausaufenthalte, war er eines Tages verschwunden. Er reiste dann – getrieben von (lt. Akte) krankheitsbedingten Ideen, die Welt zu retten – per Bahn durch die Republik. Meistens kam nach einigen Tagen ein Anruf aus irgendeiner psychiatrischen Klinik in Deutschland: Herr Deisner sei vor Ort auffällig und dort in die Klinik eingewiesen worden. Wir möchten ihn bitte möglichst bald abholen. In diesen akuten Schüben sah er oft wild und ungepflegt aus. Die verrückten Geschichten, die er von sich gab, der Blick seiner Augen und die Getriebenheit, machten einigen Menschen durchaus Angst.

Dieses Mal blieb der Anruf aus. Doch wenige Tage später klingelte es an der Stationstür, davor stand ein ungleiches Paar: Herr Deisner in Begleitung einer sehr gepflegten etwa 50-jährigen Frau. Herr Deisner meinte aufgeregt, wir müssten der Frau helfen, er habe sie auf einem Bahnhof im Ruhrgebiet gefunden und mitgebracht, sie sei lebensmüde.

Im Gespräch bestätigte eine sehr reflektierte Dame, dass sie tatsächlich auf dem Bahnsteig gestanden und beschlossen habe, sich das Leben zu nehmen. Niemand habe auf sie geachtet. Sie glaube auch nicht, dass man ihr den Entschluss ansehen konnte. Doch dann habe plötzlich der Herr Deisner vor ihr gestanden und gesagt, sie dürfe das nicht machen; er würde Menschen kennen, die ihr helfen, ganz sicher! Sie sei in diesem Moment von seiner Sensibilität und Liebenswürdigkeit so überwältigt gewesen, dass sie ihm ohne einen Moment zu zweifeln, einfach gefolgt sei. Er habe etwas gesehen, was die anderen Menschen auf dem Bahnsteig nicht wahrgenommen haben. Sie seien zusammen in den nächsten Zug gestiegen, und jetzt sei sie hier, mit all ihren Problemen und Ängsten. Jedoch auch mit etwas Hoffnung, die sie verloren, Herr Deisner aber in ihr gesehen und geweckt habe.

Die Frau, ihren Namen erinnere ich nicht mehr, hatte sich etwa 4–5 Wochen bei uns behandeln lassen. Sie wurde in einem gut stabilisierten Zustand entlassen und zeigte sich der Station, aber insbesondere Herrn Deisner gegenüber äußerst dankbar. Zu der verwirrenden Wirkung, die Herr Deisner auf fast alle Menschen in seiner Umgebung hatte, sagte sie nie ein Wort.