Fortschr Neurol Psychiatr 2012; 80(12): 732-740
DOI: 10.1055/s-0032-1330385
Mitteilungen
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Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft

Nr. 30 (2012)
Verantwortlicher Herausgeber dieser Rubrik: Heinz Schott, Bonn
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
11. Dezember 2012 (online)

Tagungsbericht

Medizinische Anthropologie. Quellen – Kontexte – Perspektiven

17. Jahrestagung der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft in Verbindung mit dem Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn vom 20. bis 22. Oktober 2011

Der 125. Geburtstag Viktor von Weizsäckers gab Anlass, die Jahrestagung jenem Begriff zu widmen, der sowohl für das Lebenswerk Weizsäckers steht als auch auf vielfältige Weise Traditionen und Konstellationen bezeichnet, mit denen sich dieses Werk verbindet. Anders als die jüngst wieder verstärkte Aufmerksamkeit findende Philosophische Anthropologie setzt die Medizinische Anthropologie mit den Situationen der Störung und der Not ein. Seien es nun der Ekel oder die Angst, der Schmerz oder die Krankheit, immer geht es um Irritationen der Selbstgewissheit und Selbstsicherheit – mit anderen Worten: um Entmächtigungen neuzeitlicher Subjektivität.[1] Diese Irritationen und die unsystematische Gestalt des von Weizsäcker hinterlassenen Entwurfs drängen dazu, nach den Quellen, Kontexten und aktuellen Perspektiven Medizinischer Anthropologie zu fragen.

Einen ersten Eindruck von der Notwendigkeit solchen Fragens gab der Bonner Philosoph Theo Kobusch am Vorabend der Jahrestagung mit einer Rekonstruktion der Medizinischen Anthropologie als einer Herausforderung der Moderne. Es fügte sich gut, dass mit diesem öffentlichen Vortrag im Festsaal des Poppelsdorfer Schlosses gleichermaßen Quellen, Kontexte und Perspektiven der Medizinischen Anthropologie zur Sprache kamen. Besonders deutlich wurde dies durch einen flankierenden Blick auf den französischen Arzt und Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem.[2] Denn beide, Weizsäcker wie Canguilhem, thematisieren die wissenschaftstheoretischen und ethischen Konsequenzen unterschiedlicher Wissenskulturen. Gegen die positivistischen Reduktionen des diagnostischen wie therapeutischen Wissens auf biologische und physiologische Mechanismen nimmt die Medizinische Anthropologie andere Traditionen der philosophischen Ideengeschichte auf. Die Doppelbestimmung des Menschen als Natur- und Freiheitswesen wird zum Ausgangspunkt, sich nicht nur als physiologische, sondern auch als moralische Anthropologie zu verstehen; dies führt zur Besinnung auf die Subjektivität ebenso wie auf die Individualität des kranken Menschen. Kobusch führte hier die 1923 erschienene Schrift „Das Antilogische“ an, in der Weizsäcker den Inbegriff der medizinischen Wissenschaft in einer Philosophie der Person sieht – in der Auffassung also, dass sich die Wirklichkeit von Krankheit und Gesundheit nur aus der wesensmäßigen Verbundenheit von Menschen zueinander und nicht aus dem objektivierenden Blick auf organische Prozesse erschließe.[3] Erst aus der konkreten personalen Beziehung von Arzt und Patient kann sich dann das Wechselspiel von Subjektivität und Objektivität entwickeln, aus dem heraus die spezifische Erkenntnisform eines praktischen Wissens um das Kranksein erwächst.


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