Z Sex Forsch 2013; 26(2): 160-174
DOI: 10.1055/s-0033-1335618
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zur „Psychodiagnostik von Geschlechtsidentität“ im Rahmen des Transsexuellengesetzes

Annette-Kathrin Güldenring
a   Klinik für Psychiatrie/Psychotherapie und Psychosomatik, Westküstenkliniken Brunsbüttel und Heide
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Publication Date:
24 June 2013 (online)

In Deutschland ist es für transidente/transsexuelle Menschen nicht möglich, ein selbstbestimmtes Leben im gefühlten Geschlecht [1] zu leben. Die basalen Voraussetzungen für eine störungsfreie Integration geschlechtlich non-konformer Ausdrucksvielfalt in die Gesellschaft mit Selbstbestimmung und freier Entfaltung sind auf verschiedenen formalen Ebenen nicht gegeben. Wichtigste Instanzen, die die Grenzen für transidente/transsexuelle Menschen definieren, sind die Kostenträger des Gesundheitssystems, die psychomedizinischen Disziplinen und der Gesetzgeber, der mit dem Transsexuellengesetz (TSG) die Modalitäten für eine Vornamens- bzw. Personenstandsänderung (VÄ und PÄ) vorgibt. Das TSG ist seit 1981 in Kraft und trotz unermüdlicher Widerstände seither nicht reformiert worden, es ist sträflich überaltert. Indes wird die Kritik am TSG unter Trans*menschen immer größer, Widerstand aus ihren Reihen baut sich auf, begründet und fundiert, wie das ein Reformpapier zum TSG bezeugt, das in einer bundesweiten Arbeitsaktion von Trans*gruppen und verschiedenen Einzelpersonen aus Deutschland erarbeitet und im Juni 2012 veröffentlicht worden ist[2].

Ich möchte in dieser Arbeit die Aussagekraft psychodiagnostischer Geschlechtsbestimmung und ihrer Variationen im Entscheidungsfindungsprozess der Gerichte zur VÄ und PÄ nach dem TSG problematisieren und die damit verbundenen Folgen für die Gesundheit und Lebensqualität transidenter/transsexueller Menschen in Deutschland skizzieren. Ich werde ausführen, dass die psychodiagnostischen Methoden jeder theoretischen Grundlage entbehren, die eine objektive Diagnostik geschlechtlichen Empfindens im Rahmen menschlicher Wahrnehmung zulassen würde. Diese fehlende Wissensbasis könnte u. a. Hintergrund für die sich über die Periode des TSG zunehmenden Verwicklungen und Rollenkonfusionen zwischen Medizin/Psychologie und Rechtssystem sein, die immer noch nicht offen diskutiert werden und die Begutachtungen im Rahmen des TSG immer absurder werden lassen.

Das TSG wird von vielen Seiten als nicht mehr zeitgemäß eingeschätzt (Grünberger 2007; Rauchfleisch 2009; Güldenring 2009; Franzen und Sauer 2010; Pfäfflin 2011; Fuchs et al. 2012). Trans*menschen wehren sich seit dem Erlass im Jahre 1981 zunehmend gegen die Inhalte des TSG (EZKU 1981 – 1985; de Silva 2005). Vertreter_innen der Sexualmedizin in Deutschland fordern seit mindestens 2001 (Becker et al. 2001) insbesondere deshalb eine dringende Revision, um die „juristische Anerkennung von operativen Eingriffen“ (Richter-Appelt 2012: 260) abzukoppeln. Im Laufe der letzten Jahre gab es in der Kritik an den Inhalten des TSG mehr und mehr Übereinstimmungen zwischen Vertreter_innen der Trans*gruppen und denen der Sexualwissenschaft. Geregt hat sich die Bundesregierung bis zum heutigen Tag nicht.

Ziel dieser Ausführungen ist es, die Rolle und Funktion der Psychiatrie, Psychologie und verwandter Disziplinen als begutachtende Instanzen im Rahmen der rechtlichen VÄ und PÄ nach dem deutschen TSG im Detail zu betrachten und ihre Methoden der Psychodiagnostik von Geschlechtsidentität in Frage zu stellen. Im Fokus steht die Begutachtung, die im Rahmen der VÄ und PÄ praktiziert wird. Die Begutachtungsinhalte für die Indizierung medizinischer Maßnahmen sind hier nicht Thema, sie werden aber kurz in ihren Verwicklungen mit den juristischen Abläufen im TSG gestreift, um sie dann voneinander abzugrenzen.

Der Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten Teil gebe ich einen kurzen Überblick über die rechtlichen und medizinischen Auflagen, die transidente/transsexuelle Menschen in Deutschland während des Wechsels in das gefühlte Geschlecht erfüllen müssen. Transidente/transsexuelle Menschen sehen sich auf ihrem Weg einem schier unüberschaubaren Verhandlungsraum mit zahlreichen Behörden und Fachdisziplinen ausgesetzt. Ohne Kenntnis der Inhalte und Bedingungen dieses Recht-Medizin-Systems ist eine Auseinandersetzung mit der Thematik TSG in Deutschland nicht zu leisten.[3]

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem rapiden gesellschaftlichen Wandel der Wahrnehmung von und des Denkens über Geschlecht in den letzten zehn Jahren. Die Beschreibung des aktuellen Diskurses über Geschlecht zeigt, wie antiquiert und absurd die Inhalte des TSG vor einer fortschrittlichen Auffassung von Geschlecht sind.

Im dritten Teil beleuchte ich die Methode der Psychodiagnostik und die ihr zugrunde liegende Technik der Befunderhebung. Das hohe Maß an Subjektivität, die Unschärfen und Grenzen menschlichen Wahrnehmungsvermögens im psychodiagnostischen Prozess werden dabei ausgearbeitet. Die Fremddiagnostik geschlechtlichen Empfindens, wie sie im TSG-Verfahren praktiziert wird, entbehrt danach einer methodischen Grundlage und ist keinen Tag länger zu vertreten. Geschlechtsempfinden sollte endlich als subjektives Empfinden anerkannt werden, mit Recht auf Selbstbestimmung und ungestörten Lebensraum.

5 Vgl. http://www.mds-ev.org/media/pdf/RL_Transsex_2009.pdf. Diese Begutachtungsanleitungen sind vom MDS erstellt worden, ohne dass Vertreter_innen der Sexualmedizin oder Trans*Organisationen einbezogen worden wären. Die Anleitungen schreiben apodiktisch die Behandlungsabläufe psychiatrisch/psychotherapeutischer und geschlechtskorrigierender Behandlungen vor, die keinen Raum mehr für individuelle Behandlungswege offen lassen. Damit hat sich die gesundheitliche Versorgungssituation für Trans*menschen in Deutschland zugespitzt und verschlechtert. Darüber hinaus sind mit diesem MDS Papier der Arbeits- und Verwaltungsaufwand für sexualmedizinisch arbeitende Ärzte_innen auf die Spitze getrieben worden.