Laryngorhinootologie 2013; 92(05): 344-346
DOI: 10.1055/s-0033-1341447
Gutachten + Recht
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Aus der Gutachtenpraxis: Zur Bewertung der beginnenden Lärmschwerhörigkeit – Ein neuer Vorschlag

From the Expert’s Office: Evaluation of Beginning NIHL (Noise Induced Hearing Loss) – A New Recommendation
T. Brusis
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Publication Date:
30 April 2013 (online)

Einleitung

Im Rahmen der Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit wird gelegentlich der Einwand erhoben, dass die beginnende bzw. die geringgradige Lärmschwerhörigkeit zu schlecht bewertet wird ([Niemeyer 2000]; [Pawlata 2001]). Die Betroffenen hätten bereits erhebliche Verständigungsprobleme. Sie müssten häufig nachfragen, würden Telefonklingel und Haustürklingel überhören und das Fernsehen lauter stellen als die Familie. Besondere Schwierigkeiten würden bei Gesprächen in Gruppen bestehen, wenn mehrere Personen gleichzeitig reden würden. Dennoch würde sich aus den Hörverlusttabellen nur eine unbefriedigende oder gar keine MdE errechnen lassen und insbesondere kein Rentenanspruch ergeben.

Bekanntermaßen empfiehlt die Königsteiner Empfehlung, das Tonaudiogramm mit in die Bewertung einzubeziehen, wenn sich aus dem Sprachaudiogramm ein Hörverlust von weniger als 20% ergibt. Dies soll mittels der 3-Frequenz-Tabelle von [Röser (1980)] erfolgen ([Brusis 1996]). Mit der 3-Frequenz-Tabelle von Röser kann sich aber rechnerisch durchaus ein prozentualer Hörverlust von 0% ergeben, auch wenn bereits im Hochtonbereich ein merklicher Schaden vorliegt, der den Betreffenden in seiner Kommunikationsfähigkeit in manchen Lebenssituationen beeinträchtigt. In einem solchen Fäll wäre bei einem prozentualen Hörverlust von 0% der Terminus einer „Normalhörigkeit“ gegeben. Eine solche Bezeichnung, z. B. in einem Bescheid, wird der Situation eines Schwerhörigen jedoch nicht gerecht. Denn ein Lärmarbeiter mit einer beginnenden Lärmschwerhörigkeit und einer bereits bestehenden Einschränkung seiner Kommunikationsfähigkeit wird es kaum hinnehmen, wenn ihm die Anerkennung seiner Berufskrankheit oder eine Rentengewährung mit der Begründung abgelehnt wird, bei ihm liege noch eine „Normalhörigkeit“ vor, obwohl bei ihm bereits Hörprobleme bestehen.

Nicht nachvollziehbar ist auch die Auffassung mancher Unfallversicherungsträger, dass ein Ohrgeräusch nicht lärmbedingt sein könne, wenn ein prozentualer Hörverlust von 0% (=Normalhörigkeit) vorliegt, auch wenn ein lärmtypischer Hochtonschaden erkennbar ist ([Feldmann und Brusis 2012]). Dies hat in der Vergangenheit immer wieder zu überflüssigen Rechtsstreitigkeiten geführt.

Aufgrund dieses Widerspruches wurde der Tabelle 3 (Berechnung der MdE aus den Schwerhörigkeitsgraden beider Ohren) und der Tabelle 4 (MdE und Schwerhörigkeitsgrad bei symmetrischen Hörschäden in Abhängigkeit vom prozentualen Hörverlust) in der neuen Königsteiner Empfehlung 2012 eine Fußnote zugefügt:

„Liegt aber ein lärmtypischer Hochtonschaden mit einem Hörverlust von 0% nach dem Tonaudiogramm vor, sollte dieser nicht als Normalhörigkeit, sondern als beginnende Schwerhörigkeit bezeichnet werden“.

Dieser Hinweis gilt z. B. für eine gutachterliche Beurteilung und eine Bescheiderteilung und dient damit auch dem Rechtsfrieden.

Bekanntlich wird mit der bisherigen 3-Frequenz-Tabelle neben der 1 000 Hz- und der 2 000 Hz-Frequenz nur noch die 3 000 Hz-Frequenz bewertet – unabhängig davon – ob die Hörverlustkurve oberhalb dieser Frequenz wieder

ansteigt oder weiter abfällt ([Abb. 1]).

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Abb.1 Im linken Tonaudiogramm (a) liegt eine geringe und im rechten (b) eine ausgeprägte Hochtonsenke vor. Die Hörverlustsumme beträgt aber in beiden Audiogrammen einheitlich 30 + 50=80, der prozentuale Hörverlust ist daher gleich groß, nämlich 5%. Der Hörverlust im hohen Frequenzbereich wird mit der Tabelle nicht ausreichend erfasst.
 
  • Literatur

  • 1 Brusis T. Hörverlustbestimmung und MdE-Einschätzung aus Tonaudiogramm und Sprachaudiogramm bei beruflicher Lärmschwerhörigkeit. Laryngo-Rhino-Otol 1996; 75: 732-738
  • 2 Feldmann H, Brusis T. Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. Thieme Verlag; 7. Auflage 2012
  • 3 Niemeyer W. Kritisches zur Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit. In: Ganz H, Iro H. HNO Praxis heute. Band 20. Springer; 2000
  • 4 Pawlata H. Zur Unterbewertung der geringgradigen Lärmschwerhörigkeit. HNO 2001; 49: 224-225
  • 5 Röser D Schätzung des prozentualen Hörverlustes aus dem Tonaudiogramm. Kolloquium beruflicher Lärmschwerhörigkeit – Fragen der Begutachtung nach dem Königsteiner Merkblatt. Veranstaltung des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 26.04.1980 in Bad Reichenhall