Allgemeine Homöopathische Zeitung 2014; 259(01): 19-22
DOI: 10.1055/s-0033-1357591
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© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Die Biografie Cyrus Maxwell Bogers

Norbert Winter

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Publikationsdatum:
14. Februar 2014 (online)

Die Biografie Cyrus Maxwell Bogers

Ein Interview mit Norbert Winter

AHZ: Sehr geehrter Herr Winter, zusammen mit C. F. Bragg, der Urenkelin des nordamerikanischen Homöopathen Cyrus Maxwell Boger, haben Sie jüngst das Buch „Cyrus Maxwell Boger und das Erbe der amerikanischen Homöopathie“ herausgegeben. Wie kam es zu diesem Forschungsprojekt und warum interessieren Sie sich gerade für C. M. Boger?

Norbert Winter: Nach ca. 14-jähriger Auseinandersetzung mit dem Thema Boger könnte ich heute jede Menge Gründe nennen – aber in Wirklichkeit ist mein Interesse durch eine Art Resonanz bedingt, die ich lange Zeit selbst nicht begriffen hatte. Die enorme Bandbreite von größter Detailtreue und der mitunter atemberaubenden Reduktion komplexer Sachverhalte auf wenige Worte – dies übte früh eine Faszination auf mich aus. Diese eher dumpfe Faszination bekam Nahrung, als eine Kollegin Unterlagen aus dem indischen „Institute of Clinical Research“ mitbrachte, die erste Einblicke ermöglichten. Und bei tieferer Beschäftigung mit diesem Thema ergab sich eine Sicht auf das weite Feld der Homöopathie, die meinen Veranlagungen und Interessen sehr entgegenkam.

Da mir – gerade in der Homöopathie – in einem gesteigerten Personenkult das Risiko von Verklärungen und Idealisierungen als ein großes Problem erscheint, suchte ich natürlich immer auch in anderen Richtungen weiter, fand meinen persönlichen Zugang zu den Gegebenheiten der Praxis aber immer wieder am deutlichsten in der Literatur Bogers und seinem Umfeld gespiegelt. Ich begriff allmählich, dass der schädlichste Personenkult darin besteht, einen Autor als neutrale Instanz von allgemeiner Gültigkeit aufzufassen – und nicht als Menschen aus Fleisch und Blut zu sehen.

Wichtig ist mir dabei, dass es um Resonanz geht – und dass nicht die Aussage impliziert wird: Boger kann‘s am besten.

Wer war Cyrus Maxwell Boger und welche Rolle spielten er und seine Biografie für die Entwicklung der Homöopathie?

C. M. Boger war einer der letzten „großen“ Homöopathen, mit denen man eine sehr wirksame und effiziente Praxistätigkeit verbindet und die durch ihren Einfluss, ihre Diskussionsbeiträge und vor allem durch die hinterlassene Literatur eine wichtige Vorreiterrolle eingenommen haben. In der Hahnemann‘schen Homöopathie verknüpft man seinen Namen mit einer bestimmten Vorgehensweise, der Fallanalyse, die neben der Bönninghausen‘schen und Kent‘schen Repertorisation einen dritten Weg darzustellen scheint. Tatsächlich liegt die große Bedeutung Bogers nicht in der Entwicklung eines völlig neuen Weges, vielmehr war es sein Bestreben, die gesamte Entwicklung der Homöopathie zu fokussieren, auf größtmögliche Praxisrelevanz zu konzentrieren – und hierfür die notwendigen Werkzeuge in Form von Repertorien bereitzustellen.

Boger wuchs auf in einer Zeit, zu der die Homöopathie bereits eine enorme Bedeutung im amerikanischen Gesundheitssystem erreicht hatte. Er studierte Homöopathische Medizin und entwickelte sich bald zu einem brillanten und hochgeachteten Praktiker. Als seine gesamte Familie von der „Schwarzen Diphtherie“ heimgesucht wurde, verlor er 3 Kinder – und auch viele weitere Schicksalsschläge haben ihre Spuren in seinem Tun und seiner Denkweise hinterlassen.

Auffallend ist jedoch sein ungebrochener Wille, durch all die Tiefs mit großer Schaffenskraft hindurchzugehen, sie als Ansporn zu noch besserer Arbeit und noch tieferem Verständnis zu sehen. So entwickelte er sich zu einer zentralen Figur in der amerikanischen Homöopathiegemeinschaft. Er präzisierte die wesentlichen Grundpfeiler der homöopathischen Behandlung und kondensierte die gesamte praktische Erfahrung jener Zeit in seinen Büchern. Dies ist von umso größerer Bedeutung, da er die Ära des Niedergangs der Homöopathie miterleben musste. Somit wurden seine Veröffentlichungen zu Aufzeichnungen, die die Hochzeit der Homöopathie dokumentierten und die nachfolgende „Dürreperiode“ überdauerten. Heute – 80 Jahre später – können wir versuchen, das Erbe anzutreten.

Welche Rolle spielte die Urenkelin C.F. Bragg für die Forschung?

Die Aufarbeitung der homöopathischen Inhalte Boger‘scher Literatur fand schwerpunktmäßig in der Zeit von 1999 bis ca. 2007 statt, danach erfolgte zunehmend die Etablierung dieser Inhalte in einer sehr vollen und fordernden Praxis. Für mich bedeutete dies, dass ich mehr und mehr Fallaufnahmen, Fallanalysen und Arzneiverständnis in diese Richtung verlagerte, mich an die Möglichkeiten und Grenzen in der Praxis herantastete und dies mit den Ergebnissen von Kolleginnen und Kollegen abglich. Dieser langsame und stetige Prozess bekam jedoch unerwarteten Auftrieb, als zum Jahreswechsel 2011/2012 Cheryl in meiner Wahrnehmung auftauchte. Es dauerte nur wenige E-Mails, bis wir beide uns klar wurden, dass unsere Wege – gerade da wir aus völlig verschiedenen Richtungen kamen – einander wunderbar ergänzen würden. Es war für mich faszinierend zu hören, dass Cheryl in C.M. Boger nicht den Homöopathen sah, sondern einen großen Arzt und einen Menschen, dessen Wirken und Einfluss bis in die heutigen Generationen spürbar ist. Cheryl förderte viele Details zutage - Geschichten, Fotos, Erinnerungen - die plötzlich manche Aussagen Bogers in einem anderen Licht erschienen ließen. Andersherum konnten manche Literaturstellen Bogers wiederum etwas Licht in Familiengeheimnisse bringen.

Mehr und mehr bedeutete dies, dass die erneute Lektüre viel mehr „zwischen den Zeilen“ durchschimmern ließ als vorher. Es wurde immer deutlicher, dass die intellektuelle Auseinandersetzung mit Boger hier eine „lebensnotwendige“ Bereicherung erfährt, indem seine Schriften vor dem Hintergrund des Menschen und seiner Realitäten gelesen werden. Aus Theorien und Ansichten wurden Erfahrungen und ein ständiges Ringen um bessere Ergebnisse.

Für mich persönlich gestaltete es sich so, dass aus der anonymen Idealfigur Boger ein Mensch aus Fleisch und Blut wurde. Das hat etwas unglaublich Befreiendes. Wenn wir unser Handwerkszeug einmal in aller Tiefe erlernt haben, müssen wir uns in unserer alltäglichen Praxis nicht mehr mit einem unfehlbaren Ideal vergleichen, sondern lernen aus diesem ständigem Ringen und Weitermachen, dass dies die eigentliche Qualität ist, die wir brauchen. Wir müssen und können uns nicht auf allwissende Instanzen verlassen, wir müssen selbst beobachten, lernen, ringen – und selbst die Verantwortung dafür übernehmen, welche Früchte die Homöopathie unter unseren Händen hervorbringt.

Deshalb sehe ich im Beitrag Cheryls zur Boger-Forschung, dass dadurch diesem Thema Leben eingehaucht wurde. Etwas, was ich z.B. auch durch die bekannten biografischen und historischen Arbeiten zu Hahnemann, Bönninghausen, Hering und Jahr als ebenso wohltuend und notwendig empfunden habe.

Inwieweit lässt sich die Boger’sche Homöopathie durch das Verständnis seiner Biografie und seines zeitgeschichtlichen Kontextes besser verstehen?

Als Homöopathen haben wir täglich das Problem, dass wir die Sprache und die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts auf gegenwärtige Probleme anwenden müssen. Somit werden Krankheitsnamen, alltägliche Verrichtungen, medizinische, soziale oder hygienische Gegebenheiten jener Zeit verwendet, die heute völlig anders zu bewerten sind. Homöopathie ohne historischen Kontext ist schlicht nicht möglich.

Das fängt mit Krankheitsbegriffen an (die Begriffe Herpes, Fieber, Migräne, Angina pectoris etc. waren damals anders belegt als heute), betrifft die Ernährung (z.B. Wirkung des Kaffees auf den Menschen damals und heute), das Klima (z.B. war Malaria damals in Deutschland eine ständige Gefahr), Krankheiten (Syphilis, Pocken, Diphtherie, Ruhr, Typhus, Cholera infantum – was bedeuten diese Erfahrungen für die heutige Homöopathie?), die homöopathischen Werkzeuge (welche Arzneien gab es, welche Repertorien, welche Arten der Potenzierung, welche Wirkung wurde beobachtet?) usw. Wenn wir beispielsweise wissen, welchen Hintergrund die „Grippe“-Rubrik in Bogers Repertorium hat, werden wir uns hüten, diese bei einem alltäglichen grippalen Infekt heranzuziehen. Mir scheint, Homöopathie ohne die angemessenen historischen Zusammenhänge wäre einem Blindflug im Nebel vergleichbar.

Da Boger nun historisch recht nahe an der Gegenwart liegt, fällt die historische Aufarbeitung vielleicht etwas leichter als bei anderen Homöopathen. Erschwerend ist natürlich, dass hier ein anderer Kontinent mit anderen klimatischen Bedingungen den Rahmen vorgibt, aber dennoch ähneln die Gegebenheiten der USA im frühen 20. Jahrhundert deutlich mehr unseren Gegebenheiten, als dies z.B. für das Umfeld Hahnemanns gelten würde.

Bei Hahnemann und Bönninghausen schimmert durch die historische Aufarbeitung mehr und mehr durch, dass diese Ikonen der Homöopathie in ihren Praxen genauso wenig unfehlbar waren, wie dies den heutigen Homöopathen widerfährt. Dies ist auch mein Anliegen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Boger: Es gibt keine mathematische Gewissheit zur Heilung, es gibt nur das ernsthafte und authentische Ringen um immer größere Annäherung an dieses Ideal. Dieses Eingeständnis ist wichtig, dass wir nicht an unseren Fehlern verzweifeln und verzagen, sondern – wie es im allopathischen oder psychotherapeutischen Bereich selbstverständlich ist – diese Fehler als notwendigen Schritt in die richtige Richtung sehen.

Gerade die gegenwärtige Generation von Homöopathen hat darunter zu leiden, dass sie ihr Metier in einer Zeit erlernen musste, in der es kaum Kollegen mit langjähriger Erfahrung gab. Die Homöopathie wurde quasi aus dem Nichts wiederbelebt – basierend auf alten Büchern. Bücher, die geschrieben wurden, um Vorlesungen erfahrener Dozenten in Erinnerung zu rufen, um Anfängern ein Halteseil zu geben. In diesen Lehrbüchern ist alles geregelt, alles geglättet, scheinbar alles machbar. Aber der echte klinische Alltag ist weitaus komplexer und diese Erfahrung musste in dieser Generation erst gemacht – und vor allem eingestanden – werden. Die Beschäftigung mit den realen historischen Hintergründen erleichtert diesen Schritt ungemein und gestattet uns, den Schritt vom idealisierten zum realen Praxisalltag zu beschleunigen.

Welche Rolle spielten persönliche Schicksalsschläge Bogers für die Entwicklung seiner Konzepte und Repertorien?

Das ist das, was mich an dieser Geschichte beeindruckt: keine! Zumindest ist es nicht erkennbar – außer natürlich, dass familiäre Erkrankungen oder Todesfälle möglicherweise den Ansporn gaben, bestimmte Themen in der Praxis umso intensiver anzusehen. Sowohl die Todesfälle in der Familie als auch Flut- oder Brandkatastrophen konnten die Tatkraft Bogers nicht beeinträchtigen, schienen sie im Gegenteil eher anzustoßen. Die einzige mögliche Konsequenz aus der Brandkatastrophe von 1929, bei der Bogers Praxis abbrannte, ist die vermutete Zerstörung umfangreicher Ergänzungen und Veränderungen zu „Boenninghausen‘s Characteristics and Repertory“. Es ist nicht erwiesen, aber sehr wahrscheinlich, dass Boger danach mit diesem Repertorium quasi zum Ausgangspunkt der ersten Auflage von 1905 zurückgeworfen wurde. Aber auch hierbei hatte er dann trotz allem den Nerv, quasi bei Null anzufangen.

Haben Sie bei Ihrer Recherche auch Überraschungen erlebt?

Natürlich waren alle biografischen Erkenntnisse Überraschungen, besonders natürlich die Schicksalsschläge, die die Familie getroffen hatten. Unerwartet war auch, dass C.M. Boger selbst bei manchen in Erinnerung ist, die nicht unmittelbare Nachkommen oder Homöopathen sind. So konnte z.B. der gegenwärtige Besitzer des Boger-Hauses eine unglaubliche Fülle von Details aus dem Leben der Vorbesitzer berichten – und die Spuren davon demonstrieren.

Veränderungen methodischer Art ergaben sich zunächst nicht. Was mich jedoch am meisten überraschte, war, dass sich für mich die tägliche Anwendung Boger‘scher Repertorien – vor dem Hintergrund des Menschen Boger – weitaus intensiver, lebensnaher und gehaltvoller gestaltete als vorher. Dieser deutlich bewusstere und somit auch praxisnähere Umgang mit den Repertorien ist wohl die für mich wichtigste Frucht dieser Arbeit.

Boger hat sich offensichtlich intensiv mit den Werken von Paracelsus auseinandergesetzt. Hat dies seine Arbeit beeinflusst?

Wir können in der Arbeit Bogers und in seinen Diskussionen mit Kollegen erkennen, dass er ständig die Grenzen auslotete, in denen seine Heilkunst anzuwenden war. Ein Wegweiser, welche Grenzüberschreitung eventuell lohnen würde, war sicher Paracelsus. Es ist nicht ganz klar, in welcher Tiefe sich Boger mit dessen Werken beschäftigte. Die wenigen Zitate, die es gibt, wurden meist deshalb erwähnt, um ein homöopathisches Ausloten dieser Thematik einzuleiten.

Dies betrifft die Themen Mondphasen und Signaturen. Hier experimentierte Boger, ohne den Rahmen der Hahnemann‘schen Homöopathie zu verlassen. Er schien vielmehr erkunden zu wollen, wie weit die Hahnemann‘sche Homöopathie in diese Bereiche hineinreicht.

Alles in allem schien Paracelsus für Boger eine ähnliche Rolle gespielt zu haben wie beispielsweise für Constantine Hering. Während dieser über eine umfangreiche Paracelsus-Bibliothek verfügt, ist dies bei Boger nicht bekannt und auch nicht anzunehmen. Vermutlich war Paracelsus eine Quelle der Boger‘schen Neugierde, ähnlich wie Helena Petrovna Blavatzky, Marie Curie oder Albert Einstein. Alle lieferten Anregungen, die – soweit möglich – in der Praxis überprüft und in ihrer Anwendbarkeit erkundet wurden.

Die Darstellung von Diskussionen und Streitgespräche Bogers mit homöopathischen Kollegen nimmt in Ihrem Buch eine große Rolle ein. Welches Bild ergibt sich hieraus für die amerikanische Homöopathie?

Zunächst ist es deutlich erkennbar, dass C. M. Boger nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet werden kann, sondern als ein Exponent einer ganzen Generation engagierter Homöopathinnen und Homöopathen. So wie er seine Generation beeinflusste und formte, wurde auch er durch sein Umfeld geformt. Er verfügte über sehr umfangreiche Erfahrungen – aber in der Gemeinschaft der „International Hahnemannian Association“ (IHA) wurden diese potenziert, geschliffen, systematisiert. Wenn man die „amerikanische Homöopathie“ auf die IHA beschränkt (und somit den überwiegenden Teil der „halbherzigen“ Homöopathen ausklammert), ergibt sich das Bild eines hochprofessionellen Kreises, erfahren, engagiert – und neugierig. Natürlich gibt es auch hier Nörgler, Besserwisser, Bürokraten, Profilneurotiker – aber sie dominieren nicht die Szene. Die Teilnehmer der IHA stehen fest auf dem Boden der Hahnemann‘schen Homöopathie – und haben weder Grund, ihn zu verlassen, noch bei neuen Herausforderungen an ihm festzuklammern.

Ein interessantes Beispiel war die Einführung elektronischer Testverfahren in der Medizin, die auch die Homöopathen in ihren Bann zog. Die Reaktion der IHA war Neugierde, die Formierung einer Arbeitsgruppe, die diese Dinge untersuchte und auf homöopathische Relevanz überprüfte. Es gab weder Scheuklappen, noch die Hoffnung auf schnellere Wege zur Arzneifindung – einfach eine gesunde Neugierde. Und dies betraf auch andere Themen wie Träume, Psychoanalyse, Arzneimittelfamilien, Periodensystem, Signaturen u.v.a.m. Alles wurde auf Brauchbarkeit hin untersucht – und es bestand einerseits keine Furcht davor, den Rahmen des Organon zu verlassen, andererseits gab man sich nicht den Illusionen hin, dass dadurch der Stein der Weisen gefunden wäre und alles viel einfacher würde.

Alle waren gewiefte Praktiker, die einen sehr ausgeprägten Realitätssinn aufwiesen. Es scheint, als hätten sie den Mut gehabt, die Hahnemann‘sche Lehre zu verwerfen, wenn ihnen etwas Besseres in die Finger geraten wäre. Aber vor dem Hintergrund ihrer professionellen Beherrschung der Homöopathie war dies nicht erforderlich – was für uns heute natürlich sehr ermutigend ist.

Die methodische Diskussion um die Frage, was „charakteristische Symptome“ sind und welche Symptome zur Arzneiwahl herangezogen werden sollten, hat offensichtlich eine große Rolle gespielt. Welche Meinung vertrat Boger?

Der Begriff der „charakteristischen Symptome“ geistert durch die ganze Homöopathiegeschichte wie eine Fata Morgana. Es scheint nicht nur so, als ob jeder Homöopath ihn auf ganz persönliche Art und Weise definiert habe, sondern als ob diese den einzelnen Homöopathen zugeordnete Definition auch innerhalb der Lebensspanne der Autoren nicht konsistent wäre. Es wirkt fast so, als würden sich Homöopathen einer klaren und eindeutigen Definition dieses Begriffs verweigern.

Vielleicht, weil alle Kategorien und Definitionen nicht all diese Umstände abdecken, bei denen der erfahrene Homöopath genau „spürt“, dass dieses oder jenes Symptom der Arzneimittelprüfung oder der Fallaufnahme charakterisierend für das Ganze steht. Boger ist hier nicht anders, auch er definiert Charakteristik nicht eindeutig – vielmehr können wir nur versuchen, aus der Gesamtheit seiner Veröffentlichungen und seiner Lebensspanne Annäherungen auszuarbeiten.

Demnach betrachtet Boger dieses Thema bei Arzneimittelprüfung und Fallaufnahme auf symmetrische Art und Weise. Das Charakteristikum des einen soll in einen Ähnlichkeitszusammenhang mit dem Charakteristikum des anderen gebracht werden.

Was ein Charakteristikum darstellt, erscheint bei Boger auf 3 Ebenen. Kurz zusammengefasst geht es darum, welche Symptome oder Zeichen die Symptomatik des Patienten in der gegenwärtigen Situation und in seiner Krankenbiografie charakterisieren, die Symptomatik quasi durchdringen. Und zudem geht es darum, welche Symptome durch ihre Qualität und ihren Stellenwert im Gesamtgefüge einen herausragenden Rang aufweisen.

Bogers Charakteristik bewegt sich somit in dem Feld, das durch diese 3 Begriffe aufgespannt wird. Das Besondere an Bogers Charakteristik ist jedoch, dass die Ähnlichkeitsbeziehung eben auf der Ebene der Charakteristika angesetzt wird – und dadurch den Rahmen bietet, in dem derart kleine Repertorien wie das des „Synoptic Key“ oder des „General Analysis“ effizient eingesetzt werden können.

Boger hat die Glanzzeit, aber auch den Untergang der Homöopathie in Nordamerika erlebt. Wie kam es aus Ihrer Sicht zum Ende dieser Glanzzeit?

Meines Wissens herrscht auch unter Medizinhistorikern diesbezüglich keine eindeutige Meinung, sodass meine Sicht als Nichthistoriker zum Teil durch die Äußerungen Bogers hierzu beeinflusst ist.

Die Veränderungen, die zum Niedergang der Homöopathie führten, liegen in etwa in dem zeitlichen Rahmen, in dem die „reguläre“ Medizin die Rolle von Krankheitskeimen wahrnahm und Forschungen diesbezüglich vorantrieb. Als beispielsweise Tuberkulose auf den Tuberkelbazillus zurückgeführt werden konnte, führte dies zu der Hoffnung, dass dies der Schlüssel für eine Heilung dieser Infektionskrankheiten darstellte. Natürlich folgte daraus, dass finanzielle Unterstützung an diese Colleges floss, die entsprechende Labors und Schwerpunkte aufweisen konnten – und hier glänzten die homöopathischen Colleges naturgemäß nicht. Die homöopathischen Colleges sahen sich natürlich genötigt, diese Bereiche entsprechend zu vertiefen – was wiederum zur Vernachlässigung homöopathischer Inhalte führen musste. Es scheint eine Art Kettenreaktion eingesetzt zu haben, die Aufbruchstimmung der „regulären“ Medizin führte zu einer zunehmenden Vernachlässigung der homöopathischen Inhalte der Ausbildung. Schon zu Bogers Collegezeit wurde keine Vorlesung über „Organon“ oder Repertorisation angeboten – und das Niveau der Ausbildung sank exponentiell weiter.

Somit scheinen die Homöopathen, die ihr Heil im Kompromiss suchten, den Niedergang der eigenen Zunft eingeläutet zu haben. Denn die herangezogenen Halb-Homöopathen konnten weder in der Homöopathie Fuß fassen, noch mit den in ihrem Fach besser ausgebildeten Allopathen mithalten.

Die Basis der Homöopathie war morsch geworden, die neuen Errungenschaften der Allopathie verhießen schnelle Erfolge und natürlich spielten wohl auch wirtschaftliche Verflechtungen und Beeinflussungen eine Rolle. Auch wenn die Schwerpunkte historisch gesehen nur schwierig abzuwägen sind, erscheint mir jedoch das „Eigentor“ der Verwässerung homöopathischer Colleges als der entscheidende Sand im Getriebe, sodass das homöopathische Räderwerk in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts schließlich zum Stillstand kam. Die echten Hahnemann‘schen Homöopathen starben einfach aus. C. M. Boger starb 1935 – in dem Jahr, in dem die akademische Ausbildung der Homöopathie gänzlich zum Erliegen kam.

Was ist denn das Erbe der amerikanischen Homöopathie?

Auch an dieser Stelle muss natürlich erwähnt werden, dass unter echter amerikanischer Homöopathie nur die Spitze des homöopathischen Eisbergs zu verstehen ist, die z.B. in der IHA oder ähnlichem Rahmen engagiert und konsequent den Hahnemann‘schen Weg fortgeführt hat. Auch dieser Teil darf nicht idealisiert werden, es gab auch hier genug Irrungen und Wirrungen, Fehldeutungen, Missverständnisse und Vermischungen mit anderen Philosophien. Dennoch wirkt diese Szene erfrischend kreativ, kraftvoll und höchst professionell.

Die amerikanische Homöopathie steht am Ende einer ca. hundertjährigen Erfolgsgeschichte der Homöopathie und kann somit all die Erfahrungen dieser Zeit überblicken und in der Literatur konservieren. Allein dies bedeutet, dass man diese Erfahrungen nicht ignorieren darf.

In meiner Wahrnehmung ist das eigentliche Erbe jedoch auch in einer bestimmten Haltung zu sehen. Eine Haltung, die einerseits kompromisslos die Hahnemann‘sche Homöopathie in aller Tiefe auslotet, andererseits neugierig erkundet, wie weit sie sich in neue Gebiete und in neue Aufgaben ausdehnen kann. Eine Haltung, die diese Heilkunst und deren Beobachtungen ernst nimmt, ohne einerseits in Dogmatismus oder andererseits in wissenschaftsgläubige Rechtfertigungen zu verfallen. Die sich an pragmatischen Ergebnissen orientiert und nicht an theoretischen Auslegungen. Ein Homöopathieverständnis, das dem Leben gerecht wird, die Beobachtung über das stellt, was vorgeblich möglich ist. Die dem Scheitern mit Professionalität begegnet, sich mit Flexibilität und kontinuierlicher Weiterentwicklung all den neuen Herausforderungen stellt. In der sich Homöopathie nicht von der Wissenschaft bedroht fühlt, sondern diese vor neue Herausforderungen stellt. Und in der sich manche der Richtungsstreitigkeiten, Abgrenzungen, Auslegungen etc. im Strom der täglichen medizinischen Herausforderungen und intensiver praktischer Erfahrung oft als recht belanglos erweisen.

Auch wenn ich sicher nicht in der Rolle bin, verallgemeinernd für die gegenwärtige Homöopathengeneration zu sprechen, so glaube ich dennoch, dass diese Haltung uns allen gut tun würde.

Ein kurzer Nachtrag noch: Vor wenigen Tagen ist der Verleger Bernd von der Lieth gestorben. Er war mit seiner Weitsicht und seinem Idealismus der entscheidende Wegbereiter dafür, dass wir die Boger‘sche Literatur anwenden und uns heute wieder an Boger annähern können. Wir haben ihm sehr viel zu verdanken.

Herr Winter, wir danken Ihnen für das Interview!

Das Interview führte Michael Teut.


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  • Literaturverzeichnis