Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 2013; 45(04): 260-261
DOI: 10.1055/s-0033-1363678
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Was hat es mit der „Symphyse der Mandibula“ wirklich auf sich?

What is Meant by „Symphysis of the Mandible”
E. Brenner
1   Sektion für klinisch-funktionelle Anatomie, Department für Anatomie, Histologie und Embryologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
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Publication Date:
09 January 2014 (online)

Frage

Was hat es mit der „Symphyse der Mandibula“ wirklich auf sich?

Antwort

In der klinischen Umgangssprache („Slang“) zumeist deutschsprachiger Zahnärztinnen und Zahnärzte hat sich der Begriff der „Symphyse der Mandibula“ eingebürgert, während dieser Begriff in anderen Sprachen wenig verbreitet ist. Tatsächlich handelt es sich bei der Verbindung der beiden Unterkieferhälften beim erwachsenen Menschen nicht um eine Symphyse, sondern um eine Synostose.

Eine Symphyse ist eine kontinuierliche Knochenverbindung, welche im Wesentlichen aus Faserknorpel besteht. Während der Frühentwicklung zeigen alle Säugetiere eine Symphyse zwischen den beiden Mandibula-Hälften, welche vor allem dem lateralen Wachstum dient [3].

Dementsprechend bleibt bei den meisten Tierarten zeitlebens eine Symphyse zwischen den beiden Mandibula-Hälften erhalten [3] ([Abb. 1] [2] [3]). Ein einer Symphyse ähnliches Muster aus Faserknorpel und Bändern kennzeichnet etwa viele Halbaffen. Diese Gewebe sind so angeordnet, dass (a) Bewegungen beim Kauen, d. h. eine antero-posteriore Scherung und Verbreitung der unteren Grenzen der Symphyse und ( b) einer hypothetischen dorso-ventralen Scherung, welche aus der Kraftübertragung von den Muskeln der Balanceseite auf den Biss Punkt, widerstehen können [1]. Verhaltensstudien und experimentelle Untersuchungen der Kräfte während der Arbeits-Phase des Kauzyklus korrespondieren mit der durch diese Kräfte hervorgerufenen Lage und Ausrichtung der Bindegewebe [2].

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Abb. 1 Mazerierter Unterkiefer eines ausgewachsenen Fuchses (Vulpes vulpes): Die beiden Unterkieferhälften waren durch eine Symphyse verbunden; die beiden Unterkieferhälften werden durch ein Bändchen (*) zusammengehalten.
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Abb. 2 Mazerierter Unterkiefer (mit Schädel) einer ausgewachsenen Löwin (Panthera leo) von außen. Die beiden Unterkieferhälften sind durch eine Symphyse, die teilweise zu einer Sutur umgebaut wurde, verbunden.
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Abb. 3 Mazerierter Unterkiefer einer ausgewachsenen Löwin (Panthera leo) von oral.

Beim Menschen ([Abb. 4] [5] [6]) wandelt sich jedoch diese Symphyse sehr früh in der Entwicklung (1.–2. Lebensjahr) in eine Synostose, also eine kontinuierliche Knochenverbindung durch Knochengewebe, um, wobei im Inneren gelegentlich doch ein wenig Faserknorpel-Material übrigbleiben kann ([Abb. 7]).

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Abb. 4 Mazerierter menschlicher Unterkiefer von vorne: Die beiden Unterkieferhälften sind synostotisch verschmolzen.
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Abb. 5 Mazerierter menschlicher Unterkiefer von hinten.
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Abb. 6 Transversalschnitt durch das Corpus eines menschlichen Unterkiefers.
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Abb. 7 Transversalschnitt durch die Basis des Alveolarfortsatzes eines menschlichen Unterkiefers; es sind letzte Reste der Symphyse im Inneren zu sehen.

Folglich handelt es sich bei der „Symphyse der Mandibula“ – zumindest den Menschen betreffend – um einen „Slang“-Ausdruck, der nach Möglichkeit vermieden werden sollte.

 
  • Literatur

  • 1 Beecher RM. Function and fusion at the mandibular symphysis. American journal of physical anthropology 1977; 47: 325-335
  • 2 Beecher RM. Functional significance of the mandibular symphysis. Journal of Morphology 1979; 159: 117-130
  • 3 Lieberman D, Crompton A. Why fuse the mandibular symphysis? A comparative analysis. American journal of physical anthropology 2000; 112: 517-540