PPH 2014; 20(01): 12-13
DOI: 10.1055/s-0033-1363924
Szene
Larses lyrische Lebensberatung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie liebe ich?

Lars Ruppel
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 January 2014 (online)

Zoom Image
(Foto: Bachmann | pixelshaping)

Wenn ich eine Fortbildung für Pflegekräfte leite, habe ich immer Lampenfieber. Zwar bin ich es gewohnt, vor Menschen zu stehen und zu reden, aber in Pflegeeinrichtungen stehe ich immer besonders unter Druck. Ich habe nämlich großen Respekt vor der Pflegearbeit und weiß nicht, ob ich ihr gewachsen wäre. Seit meinem Abitur habe ich mich nur mit Gedichten beschäftigt und erst mit dem Beginn des Poesie-Projekts Weckworte habe ich den Alltag in Pflegeeinrichtungen erleben dürfen.

Ehrlich: Jedes Mal, wenn ich aus meinem gesunden, jungen und fröhlichen sozialen Umfeld in eine Demenzstation ging, kam ich traurig wieder zurück. Zwar trösteten mich die Erfolge, die wir gemeinsam durch den Einsatz der Gedichte für die Betroffenen erzielten. Jedoch fiel am Ende des Tages immer ein Schatten auf das Erlebte. Die gedrückte Stimmung einer bewohnten, aber kaum belebten Wohngruppe, die Gerüche, die Augen, das Alter, das alles war sehr neu für mich. Denn bisher stand ich meist als Poetry-Slammer vor Menschen, die in der Blüte ihrer Sünde ein paar Gedichte hören und Bier trinken wollten. Ich glaube, dass viele Menschen nach ihren ersten Erfahrungen in Pflegeeinrichtungen so reagieren.

Je öfter ich durch Weckworte in Pflegeeinrichtungen war, desto bewusster wurde mir, was für eine unheimlich wichtige Arbeit die dort arbeitenden Menschen machen. Die Selbstverständlichkeit eines gemeinsamen Toilettengangs, die beiläufig auf die Schulter gelegte Hand, der Spaß beim Füttern, das Anstimmen eines Liedes und die vielen anderen Momente voller Menschlichkeit überzeugten mich von der intensiven Nächstenliebe in der Pflege. Das ist ganz und gar im christlichen Ursprung des Wortes gemeint, mit Religion hat das aber nicht unbedingt etwas zu tun.

Bis heute bin ich ein absoluter Laie, was die Pflege kranker Menschen betrifft und hoffe nur, durch meine Arbeit diese Arbeit ein wenig bereichern zu können. Dass es vielleicht gelingt, mit einem Gedicht und der richtigen Vortragstechnik einen Menschen glücklich zu machen. Daher die Aufregung.

Ich glaube, Gedichte wurden nur aus dem Grund erfunden, um Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Gefühle besser ausdrücken zu können. Wenn ein Bild mehr sagt als tausend Worte, dann sagt ein Gedicht mehr als tausend Bilder. Es weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten, birgt längst vergessene Emotionen in sich und lässt sich so wunderbar gemeinsam genießen. Natürlich verlangt der Vortrag eines Gedichts dem Vortragenden emotional einiges ab und nicht jeder ist von seinen eigenen Vortragskünsten so überzeugt. Aber gerade diese Überwindung macht den Vortrag zu etwas ganz Besonderem und zu einer weiteren Möglichkeit, die Liebe zu den Menschen, denen wir helfen, unter Beweis zu stellen.

Die Ausgangslage ist eigentlich ganz gut: Wir können auf ein unermesslich großes Repertoire von Gedichten zurückgreifen und jeder wird darin Gedichte finden, die sich im Pflegeberuf oder im privaten Alltag anwenden lassen. Manchmal muss man sie lediglich ein wenig den Bedürfnissen der Zuhörer anpassen. Besonders Menschen mit demenziellen Veränderungen kann man durch die Modifizierung des Gedichts das Verständnis dessen erleichtern.

Ein schönes Beispiel dafür ist das Gedicht „Was es ist“ von Erich Fried. Besonders die Zeile „Es ist was es ist sagt die Liebe“ ist eine schöne Zeile, die man gemeinsam mit den Zuhörern sprechen kann. Fast wie ein Refrain taucht sie am Anfang, in der Mitte und am Ende auf. Solche Strukturen zu erkennen und sie möglicherweise noch hervorzuheben, ist für den Vortrag von Gedichten für Menschen mit demenziellen Veränderungen sehr wichtig.

Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Erich Fried (1921-1988)
Aus: Es ist was es ist © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1983

Stellen Sie das Gedicht kurz inhaltlich vor und laden sie dann die Zuhörer ein, den „Refrain“ gemeinsam zu sagen. Nach dem ersten gemeinsamen Sprechen der Zeile beginnen Sie mit dem Gedicht. Nach „Es ist Unsinn sagt die Vernunft“ und nach „Es ist Unglück sagt die Berechnung“ lassen Sie den Refrain wieder gemeinsam sprechen. Die Zuhörenden erkennen nun den Ablauf und hören genauer hin, um ihre Vermutung zu bestätigen. Fügen sie dementsprechend weiter den Refrain ein.

Das gemeinsame Sprechen des Textes fördert die Konzentration der Zuhörenden. Es motiviert zum Zuhören und verschafft Zeit, über das Gehörte nachzudenken. Auch Menschen mit sprachlichen Problemen fühlen sich im chorischen Sprechen sicher und machen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit. Es schafft Gemeinschaftsgefühl und sorgt für eine gelöste Atmosphäre im Raum. Der Vortragende kann während des chorischen Sprechens seinen Vortrag der nächsten Zeilen vorbereiten und erhält unmittelbares Feedback. Das Wohlbefinden des Vortragenden ist nämlich genauso wichtig wie das des Zuhörenden. Liebe beruht im besten Fall ja auch auf Gegenseitigkeit.

Wie Poesie unser Herz zum Schlagen bringt, habe ich mal in Österreich erlebt. Während einer Weckworte-Anwendung im Rahmen einer Fortbildung habe ich von einer über 100 Jahre alten Frau einen Heiratsantrag bekommen. Ich bat sie um drei Tage Bedenkzeit. Sie sagte darauf: „In drei Tagen? Nein. Dann bin ich zu alt.“

Lesen Sie beim nächsten Mal: Wie schreibe ich?

Podcast!

Sie wollen Lars Ruppel live hören? Und Tipps von ihm erhalten, wie Sie das Gedicht praktisch einsetzen können? Bitte schön:

Wir wünschen viel Hörvergnügen!