Der Klinikarzt 2014; 43(6): 278-279
DOI: 10.1055/s-0034-1384297
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Leserbrief – Apallisches Syndrom – immer ein Dilemma

Peter Holtappels
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Publication Date:
18 June 2014 (online)

Zum Editorial von Prof. Dr. med. W. Hardinghaus in klinikarzt 2013; 42 (12): 539

In seinem Editorial im klinikarzt 12/2013 rät Prof. Hardinghaus dem Berufsverband der Palliativmediziner in Westfalen-Lippe, sich nicht auf „juristisches und ethisches Glatteis zu begeben.“ Insbesondere seien „allgemeine Empfehlungen nicht hilfreich“, da aus „gesellschaftlichen Gründen immer die Gefahr bestehe, dass eine allzu weitgehende Liberalisierung ethischer Prinzipien zu unaufhaltsamen Dammbrüchen führen könne.“ Solchen ebenso gut gemeinten wie vagen Ermahnungen muss und soll nicht widersprochen werden, sie erwecken jedoch mit einiger Sicherheit das Interesse der Leser an dem, was ihre Berufskollegen zum apallischen Syndrom zu sagen hätten, denn es handelt sich in der Tat um ein Dilemma, das dieses Leiden umhüllt und zwar ein Zweifaches. Zum einen nimmt es statistisch in einem Ausmaß zu, mit dem die Mehrung der medizinischen Kenntnisse darüber erkennbar nicht Schritt halten kann und zum anderen ist es insbesondere von der wissenschaftlichen Palliativmedizin bis vor einigen Jahren „totgeschwiegen“ worden[ 1 ].

Zur Statistik: Der Münchner Neurologe R.J. Jox, der sich mit dem Problem des Wachkomas seit einiger Zeit intensiv befasst[ 2 ], kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland zurzeit jährlich 400–2000 Menschen in ein Wachkoma (Inzidenz) geraten und – aufgrund der variablen Lebenserwartung – zwischen 3000 und 14 000 Menschen in diesem Zustand leben, also 4–17 Patienten auf 100 000 Einwohner (Prävalenz) [ 3 ].

Zur Wissenschaft: Die palliativwissenschaftliche Literatur ergibt, dass zuerst der Medizinrechtler C. Roxin[ 4 ] bereits 1999 die rechtlichen Probleme um das apallische Syndrom aufgriff und dafür plädiert hat, sich bei der Entscheidung über die Indikation jeder dogmatischen Festlegung zu enthalten (also weder „in dubio pro vita“ noch „in dubio conta vitam“), sondern vielmehr „aufgrund der gewichtigeren Indizien“ zu entscheiden. Diesen Aufruf nahmen andere sodann ab 2006 auf. Dazu gehörte insbesondere der Göttinger Medizinrechtler G. Duttge[ 5 ] und von den Palliativmedizinern – neben dem in der Diskussion dominanten Neurologen R. J. Jox – insbesondere seine Kollegen G.D. Borasio[ 6 ] und G. Markmann[ 7 ]. Zu erwähnen sind noch die „Münchner Leitlinie zur Frage der Therapiezieländerung bei schwerstkranken Patienten und zum Umgang mit Patientenverfügungen“ [ 8 ] und das „Positionspapier der Sektion Ethik der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin“ [ 9 ], die jedoch beide zur Lösung der Dilemmata nicht beitragen, weil sie sich auf die Methodik der Entscheidungsfindung beschränken, um die es hier nicht geht. Markmann und Duttge kommen zu dem Ergebnis, der behandelnde Arzt könne die Entscheidung über die „lebenserhaltenden“ Maßnahmen nur unter Bezug auf Manifestationen des Patientenwillens fällen[ 10 ]. Jox zieht auch das in Zweifel: „If there is no advance directive or it is not implemented, there is still the criterion of substituted judgment according to the patient's presumed will. In principle this is an ethically appealing criterion that purports to safeguard patient autonomy. Numerous empirical studies, however, have found that even the closest relatives only achieve an accuracy of 68 % in substituted judgments“ [ 11 ]. Das ernüchternde Ergebnis fasst Jox wie folgt zusammen: „Der Blick in den Stand der Wissenschaft hat gezeigt, wie viel Unsicherheit in allen Bereichen besteht und wie wenig robuste Evidenz es für Diagnostik, Therapie und Prognosestellung gibt. Nichtsdestoweniger muss der behandelnde Arzt Entscheidungen treffen – auch über die Indikation lebenserhaltender Maßnahmen wie künstliche Ernährung, Reanimation, Beatmung oder Antibiose“12. In einer anderen Veröffentlichung erklärt er zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, über die Todesursachen und den Sterbeverlauf von Wachkomapatienten gebe es „überhaupt keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen“13.

Der behandelnde Arzt am Bett des Wachkomapatienten, der sich seiner Diagnose und damit der hoffnungslosen Prognose des Patienten bewusst und sicher ist, weil er sie – so gut er es vermochte – abgesichert hat, wird eine sichere Indikation auf diesem Stand der wissenschaftlichen Palliativmedizin also nicht stellen können. Andererseits ist er aber rechtlich verpflichtet, als behandelnder Arzt eine Indikation zu stellen (§ 1901b/I BGB).

Dieses Dilemma empfanden jene Palliativmediziner und Hausärzte, die in Westfalen-Lippe 12 000 Patienten p. a. (2013) behandeln, als absolut unbefriedigend. Die Leser werden das nicht anders sehen, denn sie wissen, dass Indikationen bei solchen Patienten – sind sie denn erst einmal im Pflegeheim gelandet – häufig nicht mehr in gebührendem zeitlichen Intervall – gestellt werden. Ihre Pflege mag makellos sein, als Personen werden sie aber allzu häufig nicht mehr zur Kenntnis genommen. Darin liegt – wie nicht begründet zu werden braucht – ein vorsätzlicher Verstoß gegen die Kardinalpflicht der Palliative Care: Der Schutz und die Achtung der Würde des Patienten14.

Um den Zustand zu diskutieren und ihm – wenn möglich – abzuhelfen, gründeten 8 besonders erfahrene Palliativärzte und Ärztinnen aus dem Kassenbezirk Westfalen-Lippe – unter Hilfestellung eines Juristen – im Rahmen des Berufsverbandes der Palliativärzte in Westfalen Lippe e.V. – eine Arbeitsgemeinschaft „Entscheidungen am Ende des Lebens“. Diese legte dem Vorstand des Berufsverbandes am 1.7.2012 Empfehlungen vor, die – nach einmaliger geringfügiger Korrektur – wie folgt lauten:

Der Berufsverband empfiehlt seinen Mitgliedern bei der Stellung der Indikation für Entscheidungen am Lebensende von Patienten, die sich seit ca. 12 Monaten im status vegetativus befinden und deren Aussicht, ihr Bewusstsein je wieder zu erlangen, nach Ansicht eines für solche Bewertungen besonders qualifizierten Neurologen nahezu ausgeschlossen ist, folgende Normen in ihre Überlegungen einfließen zu lassen:

Niemand hat das Recht, in das Leben eines Mitmenschen dadurch einzugreifen, dass er dessen Sterben verlängert, es sei denn, eine solche Maßnahme ist indiziert.

Bei der Stellung der Indikation für die Fortsetzung einer nur noch lebenserhaltenden, therapeutischen Maßnahme ist von dem behandelnden Arzt zwischen Nutzen und Schaden solcher Maßnahme für den Patienten nach objektiven und dokumentierten Gesichtspunkten abzuwägen. Nur wenn der Nutzen den Schaden dabei eindeutig überwiegt, soll die Maßnahme als indiziert erachtet werden.

Ob diese Empfehlungen tatsächlich nicht hilfreich sind, mögen die Leser beurteilen, die Verfasser meinen, als Basis für eine fachliche Diskussion sollten sie jedenfalls brauchbar sein und laden dazu ein.