Z Sex Forsch 2014; 27(3): 278-297
DOI: 10.1055/s-0034-1385086
Buchbesprechungen
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Buchbesprechungen

Further Information

Publication History

Publication Date:
19 September 2014 (online)

Sabine Andresen, Wilhelm Heitmeyer, Hrsg. Zerstörerische Vorgänge. Missachtung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2012. 332 Seiten, mit Ill. und Abb., EUR 24,95

Werner Thole, Meike Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne Leuzinger-Bohleber, Sabine Reh, Uwe Sielert, Christiane Thompson, Hrsg. Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen, Berlin, Toronto: Budrich 2012. 331 Seiten, EUR 29,90

„Sprechen hilft!“- so lautet die Kampagnenaussage von Christine Bergmann, der ehemaligen unabhängigen Beauftragten für Fragen des Kindesmissbrauchs (UBSKM), die primär für Betroffene formuliert wurde, in ihrer Klarheit jedoch auch an die Erziehungswissenschaft zu richten ist. Der gehörige Ruck – verursacht 2010 durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle an prominenten Schulen u. a. im Odenwald – stieß endlich einen dezidierten Selbstanalyseprozess der Erziehungswissenschaft an. Dennoch: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten ist kein ausschließlich aktueller Skandal, sondern nicht selten ein begleitendes Phänomen pädagogischer Arbeit. Trotz zunehmender Modernisierung und Demokratisierung existieren sexualisierte und gewaltförmige Praktiken im pädagogischen Alltag. Die vorliegenden Sammelbände sind in Folge von Tagungen im Jahr 2011 entstanden, die sich mit sexueller Gewalt und ihren Entstehungsbedingungen in professionellen pädagogischen Kontexten auseinandersetzten.

Die herausgebenden Hochschullehrenden des Bandes „Zerstörerische Vorgänge“, Sabine Andresen und Wilhelm Heitmeyer, verfügen über eine Expertise in Sozialpädagogik und Familienforschung sowie Konflikt- und Gewaltforschung, die weitere AutorInnenschaft setzt sich aus Betroffenen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen zusammen.

Andresen und Heitmeyer definieren sexuelle Gewalt als eine „existentielle Missachtung der Integrität eines Kindes“ (Andresen und Heitmeyer 2012: 11) und verstehen die im Titel erwähnten „zerstörerischen Vorgänge“ als Form der Taubheit und Blindheit von Personen im beruflichen und privaten Umfeld. Sie proklamieren das Recht des Kindes auf Teilhabe, das vielerorts eine Änderung der professionellen Haltung sowie weitere Demokratisierung erfordert. Prävention und Intervention – nämlich schützende Faktoren aber auch Unterstützungsangebote – sind die gedankenleitenden Dimensionen, für die eine Kooperation von Betroffenen, Fachkräften und Wissenschaft angestrebt wird.

Die institutionelle Schweigsamkeit und Tabuisierung führt zu langfristigen Konsequenzen bei den Betroffenen sexueller Gewalt und deckt die TäterInnen. Der erste Themenblock beleuchtet die Ausgestaltung und Folgen des „Schweigepanzers“. Wilhelm Heitmeyer identifiziert innerhalb von Institutionen Methoden der Machtausübungen und Abschottung. Ein „sozialer Tod“ (ebd.: 22) stelle sich als dauerhafter Verlust des Vertrauens bei Betroffenen sexualisierter Gewalt ein, wenn das Recht auf Gleichwertigkeit, psychische sowie physische Unversehrtheit dort missachtet wird.

Weiterführend definiert Frank Neuner Misshandlungsformen durch Versorgungspersonen und verdeutlicht mit seiner Deklination des daraus resultierenden Stressempfindens und der Traumatisierung die Tragweite der Ereignisse. Erschwerend sei, dass Misshandlungen nicht singulär, sondern gehäuft erlebt werden und massiv die soziale Integrität beeinflussen können.

Elisabeth Helming und Marina Mayer erkennen eine große sexualitäts- und gewaltbezogene Sprachlosigkeit. Die Tabuisierung beginne bei institutionellen und professionellen Selbstbildern, die Sexualität, Körperlichkeit und Lust abspalten, und endet mit einem Mangel an sexualpädagogischen Konzepten.

Den folgenden Artikelkomplex bilden sowohl Berichte von Betroffenen als auch empirisch gesichertes Wissen durch ihre Befragung. In seinem berührenden Lebensbericht schildert Max, ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule, das multiple Scheitern in seiner Biographie: „Längst hat die Angst sich verbündet mit dem Misstrauen. Auch das Misstrauen gegen sich selbst“ (ebd.: 66). Das innere Gefangensein, die Isolation, der Kampf um Normalität, sind bestimmende Erfahrungen, die einen überdauernden Kampf bedeuten.

Die Recherchearbeit des Journalisten Rainer Stadler an der Klosterschule Ettal präsentiert die organisationsinternen Mechanismen im Ringen um die Reputation, die über die Not der Betroffenen hinweg wischen und massiven Widerstand aufbauen.

Mit der „Täterorganisation Kirche“ (ebd.: 88 f.) geht Holger André hart ins Gericht. Er ist Mitbegründer des Betroffenenverbandes „Eckiger Tisch“, der „nicht rund und versöhnlich sein [soll], sondern eckig und kantig“ (ebd.: 90). André formuliert deutlich, dass es den Betroffenen nicht um Versöhnung, sondern um Aufklärung, Hilfen und angemessene finanzielle Entschädigung gehe.

Bilanzierend schildert Christine Bergmann die bisherige Aufarbeitung innerhalb ihres Auftrags als UBSKM. Als Sprachrohr beschreibt sie konkrete Handlungsbedarfe in den Bereichen Therapie, Beratung, Verjährung, Anerkennung, Aufklärung sowie Prävention.

Jörg Fegert, verantwortlich für die wissenschaftliche Auswertung eingegangener Anrufe und Briefe in der UBSKM-Anlaufstelle, fasst mit seiner Forschungsgruppe Ergebnisse zusammen. Betroffenen fehle es an Personen des Vertrauens, Unterstützung bei der Überwindung von Scham- und Schuldgefühlen sowie Gesprächen mit anderen Betroffenen. Fegert mahnt an, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Nachhaltigkeit von Forschungsprojekten gesichert werden müssen.

Im folgenden Abschnitt werden bestimmte pädagogische Konzeptionen, die im Verdacht stehen, sexualisierte Gewalt zu begünstigen, überprüft. Die öffentlichkeitswirksame „Metaphernwelt“ reformpädagogischer Einrichtungen als „Insel der Seligen“ und Orte der „natürlichen Erziehung“ (ebd.: 130 f.) baute einen Dualismus und impliziten Vorwurf gegenüber dem Feindbild der „verwalteten Schule“ (ebd.: 135) als „Lernfabrik“ (ebd.: 131) auf. Jürgen Oelkers zeigt, dass die Innenansicht der Landerziehungsheime weitaus weniger strahlte als proklamiert.

Die generell intensivierte Familialisierung in pädagogischen Kontexten kann eine bisher wenig beachtete Risikostruktur für sexuelle Gewalt darstellen, die von Fabian Kessl, Meike Hartmann, Martina Lütke-Harmann und Sabine Reh untersucht wird: „Grenzziehungen zwischen professionell-beruflichen und privaten Verhaltensweisen […] verwischen“ (ebd.: 171) potentiell.

Die empirische Analyse des Lehrerhandelns von Annedore Prengel führt aus, dass „gravierende Formen von Missachtungen durch Lehrpersonen im Schulalltag beobachtbar“ (ebd.: 189) sind. Unter Sichtung der Forschungslage sei festzustellen, dass viele Ausblendungen von Missachtungen in der professionellen Interaktion bestehen.

Die Auseinandersetzung mit Scham und Beschämung wurden laut Veronika Magyar-Haas bisher vernachlässigt. Schandrituale und Stigmatisierungen führen zu einer Reproduktion von Macht durch das „Gefühl des permanenten Ungenügens“ (ebd.: 204). Kinder würden auf diese Weise gefügig gemacht und ihre Integrität verletzt.

Das sich wandelnde Bild vom Kind prägt die historischen Zugänge des vierten Themenblocks. Claus Koch rekapituliert, dass der fundamentale Wandel vom „Kind als Feind“ zum „Kind als Freund“ (ebd.: 228) erstaunlich wenig daran änderte, dass Kinder missbräuchlichen Verhältnissen ausgesetzt waren. In nationalistisch kalten Heimerziehungskontexten vollzog sich eine Verrohung der Erziehenden, die gewaltvolle Maßnahmen erlaubten. Auf der Emanzipationswelle hingegen surften pädophile Männer, die durch die sexuelle Befreiung den Zugriff auf Kinder als Lustobjekte rechtfertigten und ebenso taub für die Bedürfnisse der Kinder waren.

Dem Schweigen innerhalb der Schwulenbewegung bezüglich pädosexueller Männer nähert sich Jan Feddersen. Die Befreiungsbewegung Homosexueller strebte hilfreiche Vernetzungen mit linksliberalen und grünalternativen Strömungen an, um eine Anerkennung der eigenen Sexualität zu erreichen. Dabei kreuzten und verwirrten sich die Wege homo- und pädosexueller Initiativen, die sich wechselseitig als unterdrückt ansahen.

Das fünfte Kapitel eint aussichtsreiche Ansätze der Prävention und Intervention. Der demokratisierungsfördernde Ansatz des Capability for Voice, den Thomas Ley und Holger Ziegler vorstellen, unterstützt die Einflussnahme von Kindern auf ungerechte oder demütigende Konstellationen. Die Durchsetzung dieses Beschwerderechts setzt voraus, dass die Beteiligung als potentiell wirksam eingeschätzt wird.

Sabine Andresen und Sara Friedemann erläutern in ihrer professionsethischen Reflexion, dass Professionelle Distanz zu eigenen Affekten entwickeln müssen, um diese zu kontrollieren. Gleichzeitig brauche es Nähe zu eigenen Gefühlen, um empathisches Verständnis für Emotionen und Bedürfnisse von Kindern zu entfalten.

Gabriele Gawlich, Vertreterin eines Selbsthilfevereins, beklagt die Stilisierung von Betroffenen zu Objekten, über die und seltener mit denen in den beginnenden Aufklärungsprozessen geredet wurde. Mit dem Wunsch nach Parteilichkeit und Partizipation appelliert sie an die Institutionen, sich von ihrer „sozialen Taubheit und Blindheit“ (ebd.: 304) zu befreien.

In ihrer diskursanalytischen Auswertung der medialen Debatten im Jahr 2010 arbeiten Michael Behnisch und Lotte Rose populäre Frontlinien heraus. Ein gelungener Abschluss des Sammelbandes, der auf öffentliche und implizit verdeckte blinde Flecken in der Forschung hinweist. Neben der katholischen Kirche erlebt auch die Reformpädagogik in ihrer Gesamtheit eine Kritik. Hämische Debatten werden sowohl um deren „Beziehungsklüngel“ (ebd.: 313) als auch um die Liberalisierung nach 1968 geführt. Die Erklärungszusammenhänge für Missbrauch durch männliche Homosexualität sowie den Zölibat weisen auf ein trieborientiertes Konzept männlicher Sexualität hin, das einen stark einseitigen Blick auf Sexualität verrät. Erstaunlich erscheinen zudem die medialen Ausblendungen der feministisch geführten Debatte vor 2010. Das Feld der Experten ist durch neue männliche Figuren bestellt. Daneben verschwinden die Kontexte der DDR, weiblicher Opfer und Täterinnen.

Eher noch als Andresen und Heitmeyer geht Werner Thole als Vorsitzender der DGfE in dem Sammelband „Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik“ auf die „professionsethische Verantwortung“ (Thole et al. 2012: 6) ein, und bekennt Versäumnisse des Verbandes in der Vergangenheit. Ein notwendiger und mutiger Schritt. Die Verhandlungen von sexualisierter Gewalt, Macht und Pädagogik werden übergreifend historisch, theoretisch und systematisch in Institutionen und Interaktionen analysiert und hauptsächlich durch ethische Reflexionen der eigenen Profession geleitet. Der referierte Zentralwert ist die Anerkennung, auf deren Herstellung die pädagogische Praxis zielt.

Eine historische Rekonstruktion liefert erste Erklärungen für gewaltförderliche Aspekte innerhalb reformpädagogischer Erziehungskontexte. Gegen eine pauschalisierende Aburteilung der reformpädagogischen Idee sowie ihrer Landerziehungsheime spricht sich Ulrich Herrmann aus. Das Wagnis, mehr Beziehung in der Pädagogik herzustellen, dürfe nicht als grundsätzlich tätermotiviert und die Reformpädagogik nicht als ausschließliches Täternetzwerk dargestellt werden. Allerdings habe sie unter einer Blindheit für Übergriffiges gelitten.

Manfred Kappeler greift ebenfalls diese Blindheit im Schatten des Sendungsbewusstseins auf. Weil Uneindeutigkeit in zentralen reformpädagogischen Grundbegriffen und Ideen bestand, konnten „charismatische Reformpädagogen à la Wyneken, Lietz, Geheeb“ (ebd.: 70) geschickt das Wort für eigene Bedürfnisse führen.

Mit geschlechterreflexivem Blick erläutert Barbara Rendtorff, dass die Anlehnung an antikes Gedankengut die gesellschaftliche wie auch pädagogische Definitionsmacht der Männer stärke und die Gefahr berge, Kinder und Frauen zu Objekten der Machtausübung und sexuellen Interessen werden zu lassen.

Norbert Ricken erkennt, dass Missbrauch erst durch die Asymmetrie in der pädagogischen Interaktion möglich werde, weil das Kind u. a. auf die „Wertschätzung und Bestätigung“ (ebd.: 104) angewiesen sei und sich durch die emotionale Bindung nicht befreien könne.

Aus diesem Grund spricht sich Käte Meyer-Drawe für eine Ent-Emotionalisierung des pädagogischen Verhältnisses aus. Liebe und Professionalität widersprechen sich, so lautet ihre kurze Formel. „Liebe wird gelebt, nicht gewusst“ (ebd.: 134). Erziehung solle keinesfalls von Wertschätzung bereinigt, allerdings auch nicht übermäßig durch ein Liebesgebot aufgeladen werden.

Sabine Seichter forciert in Anlehnung an William Stern einen Personalismus, der einer Instrumentalisierung des Kindes als Objekt körperlicher Lust entgegenwirkt. Die bereinigte Form pädagogischer Liebe bringe ihnen Anerkennung und Fürsorge entgegen. Die emotionale Nähe erfordere Haltungsarbeit sowie Respekt gegenüber Kindern.

Die Integration sexualwissenschaftlicher und -pädagogischer Bezüge erscheint notwendig, um eine grundsätzliche Verständigung über Sexualität zu ermöglichen und professionstheoretische Überlegungen zu erweitern. So diagnostiziert der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt, dass die gesellschaftliche Liberalisierung zu einer Abkehr vom Triebmodell der Sexualität führte. Sexualität mündete in ein „Ressourcenmodell“ mit vielfältigen „Möglichkeiten für Lust-, Erlebnis- und Intimitätssuche“ (ebd.: 167). Die demokratische Verhandlung über einen Interaktionskonsens habe klare Vorschriften abgelöst, wie sie durch Kirche oder Staat vertreten wurden. In der Konsensmoral liege auch eine Erklärung für die gestiegene Sensibilisierung gegenüber sexueller Gewalt.

Uwe Sielert führt zum einen ein starkes Plädoyer für die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sexualpädagogik und -wissenschaft, die ihr gegenseitiges Schweigen überwinden müssten. Zum anderen habe sich die Pädagogik auch intern mit der Sexualität bisher schwer getan. Ohne Sichtbarkeit des Sexuellen bestehe ein ebenso blinder Fleck für die Prävention sexueller Gewalt.

Margret Dörr erkennt Intimität als einen schützenswerten Raum der Identitätsbildung an. Das gewaltvolle Eindringen rufe Scham hervor, daher müsse auf professioneller Seite Sensibilität für Grenzen erhalten bleiben.

Weitere Beiträge des Bandes sorgen für einen Überblick über bisher bestehendes, empirisch gesichertes Wissen. Carol Hagemann-White, Leonie Herwartz-Emden und Matthias Hummel erläutern Erkenntnisse über die Gewalt durch PädagogInnen. Neben einem grundsätzlichen Mangel an erziehungswissenschaftlichen Studien müsse Gewalt durch PädagogInnen differenzierter betrachtet werden. Auch strukturelle Gewalt gelte es zukünftig stärker zu beforschen.

Die Entwicklung einer gewaltvermeidenden professionellen Haltung sowie transparenz- und sicherheitsgebender Organisationsstrukturen bilden den abschließenden Teil des Buches. Werner Helsper und Sabine Reh konzipieren ein schulbezogenes Modell der Balance, die sich zwischen den Polen starker und schwacher Asymmetrie sowie diffuser Nähe und spezifischer Distanz bewegt. Eine institutionell angelegte „kommunikative Öffnung nach innen und außen“ (ebd.: 286) wird ebenso angestrebt wie bereits in der Ausbildung geförderte Reflexionsprozesse.

Die Relevanz der qualifizierenden Ausbildung betonen Alexandra Retkowski und Werner Thole ebenfalls. Sie skizzieren Merkmale einer „Aufmerksamkeitskultur“ (ebd.: 293) gemäß einer sozialpädagogischen und ethischen Professionalisierung.

Den Reflexionen über die Bedürfnisse Betroffener gehören die abschließenden Worte. Im Aufarbeitungsprozess des „Rundes Tisches“ seien sie wenig integriert worden, so Sabine Schutter und Inga Pinhard. Durch die Unzufriedenheit der Betroffenen und ihren Kampf um Anerkennung konnte eine Gegenöffentlichkeit entstehen, die einen breitenwirksamen Diskurs anregte. Die entstandene Bipolarität von Professionalität und Emotionalität regt gemeinsame Bewältigungsprozesse an.

In dem Bewusstsein, dass die Verhandlungen um sexuelle Gewalt zwischen Empörung und Bagatellisierung, Anklage und Verleugnung, Selbst- und Fremdkritik mäandern, gelingt beiden vorgestellen Bänden eine kritische Analyse, die selbstreflexiv nüchtern vorgeht. Behutsam tasten sie sich an die erziehungswissenschaftliche Selbstkritik heran, die in historischen Rekonstruktionen der Kirche und reformpädagogischer Landerziehungsheime vermeintlich leicht fällt. Der Ort Schule steht mehrfach, auch empirisch begründet, in der Kritik; sozialpädagogische Interaktionsformen eher weniger. Sicherlich ist dies auch auf eine ungenügende empirische Forschungslage zurückzuführen, dennoch erfordert die Selbstanalyse ein mutiges Vorgehen, das in den Büchern phasenweise zögerlich erscheint.

Durchdringend deutlich wird, dass interdisziplinäre Forschung nötig ist. Zudem lassen Andresen und Heitmeyer Betroffene sowie Journalisten zu Wort kommen. Die Multiperspektivität bereichert das Verständnis der Lesenden. Der selbstkritische professionsinterne Blick von Thole et al. bedeutet gleichsam auch den überwiegenden Ausschluss interdisziplinärer Analysen und vor allem der Betroffenen. Dafür werden eine umfassendere Abbildung des empirischen Forschungsstandes sowie einzelne psychoanalytische Betrachtungen ermöglicht. Hier schärft sich der Unterschied zwischen Verstehens- und Selbstaufarbeitungsprozessen deutlich.

Integrität und Anerkennung stehen als schillernde Begriffe in unterschiedlichen Traditionen. Sie bleiben weitgehend undefiniert. Während die reformpädagogische Rhetorik auf ihre Defizite überprüft wurde, müsste sich ebenso eine aktuelle professionstheoretische Debatte anschließen. Genauso bleiben die viel diskutierte Liebe sowie Nähe und Distanz in pädagogischen Interaktionen Sinnhülsen, die es in der erziehungswissenschaftlichen Forschung fortführend noch konkreter zu füllen gilt.

Allein die Defizite in Landerziehungsheimen zu recherchieren und die staatlichen Schulen im historischen Vergleich zu vernachlässigen, bedeutet eine Selektion. Auch die fortwährende Kritik am pädagogischen Eros wirkt redundant. Die definitorischen Schlupfwinkel für eine erotische Aufladung der pädagogischen Beziehung und die verbundene Fixierung auf männliche Leitkultur bilden zwar historische Erklärungen, darüber hinaus aber wenig konstruktiv Fruchtbares. Gewinnträchtiger erscheint es, danach zu fragen, wie mit Anziehung umzugehen ist. Die professionelle Ausgestaltung der sozial-emotionalen Beziehung braucht Konkretion.

Auch wenn die Sexualität in mancher Lesart lediglich Vehikel zur Machtausübung sein mag, bleibt ihre Thematisierung bei Andresen und Heitmeyer hauptsächlich randständig. Dank der Beiträge von Schmidt und Sielert wird Sexualität vom Triebmodell befreit und disziplinär verhandelt, dennoch bleibt sie in pädagogischen Interaktionen lediglich kritisch beäugt. Liebe und Sexualität werden ausschließlich – vielleicht auch als Konsequenz, quasi Gegenbewegung, zu alldem, was die Reformpädagogik und Liberalisierung an Beziehung glorifizierte – als Gefahrenmoment identifiziert. Ein Reinigungsprozess von Erotik, Zuneigung und Sexualität in ihrem weitesten Sinne führt zurück in die Distanz. Hier ist zu mahnen, dass die Schweigsamkeit die wichtigste Spur im selbstreflexiven Prozess bleibt. Im Gegensatz zum Band der DGfE stellen Andresen und Heitmeyer den Wert explizit feministischer Sichtweisen, ihre weitaus frühere Bearbeitung der Thematik und ihre Verdrängung in der Debatte ab 2010 heraus. In den gesellschaftskritischen Analysen um Machtverteilung findet dies bei Thole et al. auch Erwähnung. Ein fruchtbarer Gedanke für die weitere pädagogische Bearbeitung.

Insgesamt wird deutlich, dass blinde Flecken bestehen bleiben. Erste konstruktive Schritte sind getan, aber viele weitere noch von Nöten, um die eigenen Qualifizierungs- und Professionalisierungsprozesse positiv zu lenken. Beide Sammelbände sind aufgrund ihrer vielschichtigen Beiträge empfehlenswerte Überblicksliteratur, die auch über die Erziehungswissenschaft hinaus Lesenswertes bereithält.

Anja Henningsen (Kiel)