Z Sex Forsch 2014; 27(3): 253-257
DOI: 10.1055/s-0034-1385091
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zweierlei Maß?

Replik auf den Beitrag „Der Indikationsbereich des Hamburger Modells der Sexualtherapie“von Reinhard Maß
Sabine Cassel-Bähr
a   Für das Hamburger Fortbildungsteam, Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung
,
Reinhardt Kleber
a   Für das Hamburger Fortbildungsteam, Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung
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Publication History

Publication Date:
19 September 2014 (online)

In der Übersicht zu seinem Beitrag „Der Indikationsbereich des Hamburger Modells der Sexualtherapie“ erklärt Reinhard Maß (2014) zunächst, er wolle die Entwicklung des Hamburger Modells sowie „seine Anwendung“ beschreiben. Maß spannt seine „kritische Analyse“ zurück bis ins Jahr 1980, in eine Zeit also, in der die ursprüngliche Arbeitsgruppe unter der Leitung von Gunter Schmidt ihre Adaption der Vorgaben von Masters und Johnson erstmals veröffentlichte (Arentewicz und Schmidt 1980), in der die aktuelle Konzeption jedoch noch ihrer Entwicklung harrte.

Maß führt aus, es sei Anliegen seiner Arbeit, die Grundlagen für „den erweiterten Indikationsbereich“ des Hamburger Modells kritisch zu prüfen. Bei dieser Prüfung hat der Autor vor allem die Behandlung solcher Paare im Blick, für die mindestens bei einem/r der PartnerInnen die Diagnose „Lustlosigkeit“ gestellt wurde. Maß erklärt, der Indikationsbereich des Hamburger Modells sei „erst nachträglich auf die Lustlosigkeit ausgedehnt“ worden, „ohne dass es dafür eine empirische Grundlage gab“. Seine Argumentation gipfelt in einem zentralen Vorwurf: „Es entsteht der Eindruck, als ob es empirische Evidenz zur Wirksamkeit des Hamburger Modells bei sexueller Lustlosigkeit gibt, aber diese wurde in keiner der drei Auflagen (Arentewicz und Schmidt 1980, 1986, 1993) empirisch belegt“ (ebd.: 154). Der Vorwurf gelte auch für das aktuelle Standardwerk zum Modell, das 2005 von Margret Hauch herausgegeben wurde.

Die dann folgende Argumentation verwundert besonders in Anbetracht der Tatsache, dass der Autor selbst anscheinend mit dem Konzept arbeitet – denn er scheint nicht darum bemüht, die Anwendung, die (Weiter)-„Entwicklung“, die empirisch gut abgesicherten Wirkfaktoren des Hamburger Modells bei sexuellen Funktionsstörungen inhaltlich zu beschreiben oder im Hinblick auf die „sexuelle Lustlosigkeit“ vertieft zu diskutieren. Seine Bemühungen, Wirkfaktoren oder auch „konzeptionelle Schwierigkeiten“ des Hamburger Modells zu beschreiben, beschränken sich vielmehr auf einen knappen Abschnitt und vor allem auf eine Abgrenzung gegenüber dem Verfahren von Masters und Johnson (1970), das Anfang der 1970er-Jahre Ausgangspunkt für die Entwicklung des späteren Konzeptes im Rahmen eines Forschungsprojekts war. Das aktuelle Konzept des Hamburger Modells wird dabei hingegen nicht deutlich.

Der Artikel konzentriert sich auf die Frage, ob die Indikation der Sexualtherapie nach dem Hamburger Modell auch auf Paare mit der Diagnose „Lustlosigkeit“ erweitert werden kann. Dabei nicht auf die generellen Probleme und Kontroversen zu Indikation und Diagnostik bei sexuellen Störungen einzugehen, wie sie bei Hauch (2005) dargestellt und diskutiert werden, wird einer kritischen Analyse nicht gerecht. Dort wird nachvollziehbar dargelegt, dass nicht etwa der Indikationsbereich für das Hamburger Modell unhinterfragt erweitert wurde, sondern dass sich die diagnostischen Kategorien – unabhängig vom Hamburg Konzept – in Sexualwissenschaft und -medizin verändert haben. Vor dem Hintergrund dieser Veränderung und auf Basis der neuen Klassifikationen im ICD-10 stellte sich nachträglich die Frage, welche „Symptome“ in den evaluierten Therapien eigentlich behandelt worden waren. Dieses Problem wird, anders als von Maß unterstellt, keineswegs verschleiert, sondern bereits bei Schmidt (1998) offen behandelt.

Darüber hinaus stellt das im aktuellen Lehrbuch enthaltene Kapitel zur Indikation gleich zu Beginn klar, weshalb die Indikation des Hamburger Modells stets „bewusst weit gefasst“ (Hauch 2005: 8) war: Nicht nur in den ausführlichen und kritischen Artikeln zu einzelnen „Diagnosen“ sexueller Störungen, sondern vor allem auch im Kapitel „Zum Symptomverständnis“ (ebd.: 42 ff.) von Lange und Rethemeier wird deutlich, dass in Therapien nach dem Hamburger Modell (sexuelle) Symptome gerade nicht symptom- oder diagnosespezifisch behandelt werden (auch wenn es einzelne methodische Schritte gibt, die z. B. bei Vaginismus zusätzlich angewendet werden). Symptome werden hier vielmehr durchgängig verstanden

  • als Ausdruck eines im Hintergrund wirksamen Konfliktes (individuell oder partnerschaftlich),

  • als Ausdruck schwieriger lebensgeschichtlicher Erfahrungen (die keineswegs nur im sexuellen Bereich zu suchen sind) sowie

  • als weitergehende Verfestigungen durch selbstverstärkende Mechanismen.

Diese erschöpfen sich nicht in deskriptiver Diagnostik und werden mit ihr auch nicht erfasst. Die Bearbeitung entsprechender Hintergründe wird als eine dezidiert psychotherapeutische Aufgabe verstanden, weshalb das Manual auch nicht in Eigenregie von PatientInnen angewandt werden soll, und nur von solchen TherapeutInnen, die bereits eine psychotherapeutische Ausbildung abgeschlossen haben müssen, bevor sie sich in dem sexualtherapeutischen Konzept weiterbilden.

Das Hamburger Modell ist damit auch nicht als ein psychotherapeutisches oder sexualtherapeutisches Verfahren zu verstehen, dessen Regeln und Übungen für sich genommen schon die Therapie darstellen, sondern als ein Konzept, das die Fokussierung auf – und gezielte Arbeit an – (vordergründig) sexuellen Störungen auf einzigartige Weise möglich macht. In dem ausgeklügelten und gut erprobten Setting, das für PatientInnen vor allem einen schützenden und für TherapeutInnen einen relativ übersichtlichen Rahmen bietet, können sexuelle Schwierigkeiten dann auch von PsychotherapeutInnen verschiedener Schulen auf unterschiedlichen Wegen verstanden, interpretiert und bearbeitet werden. Das Setting entfaltet dabei eine immer wieder erstaunliche Potenz, wohl auch, weil es die besondere Bedeutung von Sexualität sowohl intrapsychisch als auch interpersonell berücksichtigt.

Insofern bleibt auch die von Maß eingebrachte „Fallvignette“, welche „die Grenzen des Hamburger Modells“ (2014: 155) in der Behandlung der Lustlosigkeit belegen soll, ohne Aussagekraft, denn sie lässt den inhaltlichen Bezug zu Konzeption und Verständnis des Modells vermissen. Der Autor beschreibt die Stagnation in einer Therapie zum Zeitpunkt einer Übung, in der die erogenen Zonen bereits „freigegeben“ gewesen seien und Wünsche vom passiven Part geäußert werden konnten und sollten. Die Frau habe nun auf den wiederholten Wunsch des Mannes, seinen Penis zu berühren (was sie bislang noch nicht spontan getan hatte), ebenso wiederholt mit einem Veto reagiert. Über Wochen hinweg habe sich ein „quälendes Ritual“ aus Wunsch und Verweigerung entwickelt. Der Autor behauptet, „die Situation ist nicht aufzulösen“ – weil sich ja beide an die Regeln (hier: das „Prinzip Selbstverantwortung“) hielten.

Aus seiner Darstellung lässt sich u. E. nur schließen, dass der Autor – entgegen den vielfachen gegenteiligen Erklärungen und Beispielen im aktuellen Lehrbuch – die Übungen und Regeln als etwas versteht, in dem sich bereits die ganze Therapie erschöpft. Er erwähnt in keiner Weise ein Symptomverständnis für das Paar, welches bereits im sog. „Round-table“ (Hauch 2005: 100 ff.) erarbeitet werden sollte, auf das bei der Interpretation von Übungen und vor allem von Schwierigkeiten zurückgegriffen werden kann und soll. Selbstverständlich dienen die Sitzungen gerade dazu, die Hintergründe der in den Übungen auftretenden Schwierigkeiten zu verdeutlichen und zu bearbeiten! Eben darin besteht die psychotherapeutische Arbeit mit dem Hamburger Modell. Es wird jedoch von Maß nicht im Ansatz geschildert, wie von den TherapeutInnen versucht worden wäre, diese Stagnation vor dem Hintergrund eines erarbeiteten Symptomverständnisses zu verstehen – oder auch nur, inwiefern sie damit gescheitert wären. Auch die Frage, warum nicht bereits vorher thematisiert wurde, weshalb die Frau den Genitalbereich des Mannes nach „Freigabe“ weiterhin mied (etwas, das nach Manual ausdrücklich zu bearbeiten wäre; ebd.: 123 f.), wird nicht aufgeworfen. Es drängt sich die Frage auf, ob nicht die TherapeutInnen sowohl das Prinzip Selbstverantwortung als auch den experimentellen Charakter der Verhaltensvorgaben gründlich missverstanden haben. Es verwundert dann auch nicht, wenn der Therapieverlauf von ihnen als „zäh“ beschrieben wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Autor mit den angeführten Daten und Argumenten bestenfalls die Frage beantworten könnte, ob die Wirksamkeit des Hamburger Modells für Paare mit der Diagnose „Lustlosigkeit“ ebenso gut empirisch abgesichert werden kann, wie seine Wirksamkeit für die bereits vor 40 Jahren verwandten Diagnosen bei sexuellen Funktionsstörungen. Zu der eigentlich interessanten Frage, ob und wie unterschiedliche Therapien sexueller Störungen überhaupt wirken, auch im Vergleich untereinander, kann er keine Daten vorlegen – schon deshalb nicht, weil es unseres Wissens neben dem Hamburger Modell keine andere sexualtherapeutische Konzeption im deutschsprachigen Raum gibt, die sich einer empirischen Evaluation gestellt hätte. Dementsprechend könnte man natürlich eine eigene Untersuchung durchführen. Dazu müsste man jedoch die Diagnose „Lustlosigkeit“ zunächst einmal operationalisieren und unterschiedliche Behandlungen derselben dann vergleichend untersuchen.

Zu dieser letzten Frage jedoch argumentiert der Autor schließlich völlig jenseits empirischer Überlegungen: Beim Hamburger Modell handele es sich um eine Konzeption, die „selbst von einigen Gründervätern“ (Maß 2014: 155) nicht mehr vertreten werde – zumindest nicht in Fällen von sog. „Lustlosigkeit“. Maß zitiert in diesem Zusammenhang Einschätzungen von SexualtherapeutInnen, die nicht (mehr) mit dem (aktualisierten) Hamburger Modell arbeiten und/oder jedenfalls an seiner Weiterentwicklung und Konzeption weder beteiligt noch interessiert sind. Empirische Nachweise für die Wirksamkeit der von diesen TherapeutInnen entwickelten oder bevorzugten alternativen Verfahren zur Behandlung sexueller „Lustlosigkeit“ werden von Maß weder vorgelegt, noch gefordert. Für die Zwecke des Autors scheint es hier überraschenderweise auszureichen, wenn KollegInnen, die offenbar seit langer Zeit an der Entwicklung alternativer Verfahren zur Sexualtherapie arbeiten, entsprechende Therapieverläufe für „zäh und langweilig“ halten oder für PatientInnen mit sexueller Lustlosigkeit eher „eine nicht-sexuell orientierte Partner- oder Einzeltherapie“ vorschlagen, ohne dass dies empirisch belegt oder auch nur irgendwie inhaltlich weiter begründet oder erklärt werden müsste. Mit denjenigen, die sich als AusbilderInnen und AutorInnen durchgängig und intensiv mit dem Modell und seiner Weiterentwicklung auseinander gesetzt und 2005 dessen aktuelle Konzeption vorgelegt haben, findet eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht statt. So entsteht leider nach und nach der Eindruck, als werde im Beitrag von Maß das Hamburger Modell, auch in seiner historischen Entwicklung, anhand einer willkürlich eingeengten Fragestellung diskreditiert.

Im kollegialen wie auch im PatientInnen-Interesse steht dagegen für uns die Frage im Mittelpunkt, wie – gerade auch innerhalb der „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“ – ein fachlicher Austausch über unterschiedliche therapeutische Konzepte und Vorgehensweisen geführt werden kann. Die Mechanismen, Hintergründe und Besonderheiten der sog. „sexuellen Lustlosigkeit“ besser zu verstehen und zu definieren, wäre dabei sicher eine lohnende Aufgabe für uns alle.