Der Klinikarzt 2014; 43(10): 449
DOI: 10.1055/s-0034-1396021
Zum Thema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Deutschland braucht eine nationale Diabetesstrategie

Erhard Siegel
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 November 2014 (online)

Derzeit leben mehr als 6 Millionen Menschen mit Diabetes in Deutschland. Diabetes mellitus gehört zu den bedeutendsten, nicht übertragbaren Krankheiten. Die Lebenserwartung und Lebensqualität ist durch ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall, Nieren- und Augenerkrankungen, Amputationen und Wundheilungsstörungen deutlich reduziert. Psychische Erkrankungen wie Depressionen treten im Zusammenhang mit Diabetes etwa doppelt so häufig auf wie in der Normalbevölkerung. Aufgrund der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung mit zunehmenden Diabeteszahlen (zwischen 1988 und 2012 Anstieg um 38 %) und der damit verbundenen finanziellen Belastungen von ca. 48 Mrd. € Kosten pro Jahr braucht es ein koordiniertes Vorgehen unter Federführung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für eine verbesserte Prävention, Behandlung und Erforschung des Diabetes.

Eine Nationale Diabetesstrategie ist die sinnvolle und notwendige Ergänzung zum Nationalen Krebsplan, zum Aktionsplan „InForm“ gegen Übergewicht, zur Nichtraucherschutzgesetzgebung und zur Nationalen Kohorte zur Erfassung des Gesundheitsverhaltens, um zu einem übergeordneten Plan gegen nichtübertragbare Krankheiten (NCDs) zu kommen.

Das neue Präventionsgesetz muss den notwendigen Paradigmenwechsel gemäß den Empfehlungen der Vereinten Nationen und der WHO umsetzen: eine schwerpunktmäßig verhältnispräventiv und ressortübergreifende Ausrichtung mit primärpräventiven Maßnahmen außerhalb des Gesundheitssystems und Fokusierung auf die gemeinsamen Risikofaktoren der wichtigsten chronischen Krankheiten: ungesunde Lebensmittel, Bewegungsmangel, Tabakkonsum sowie schädlicher Alkoholkonsum. Von den neuen Präventionskonzepten können und sollen alle Lebensstil-mitbedingten Erkrankungen profitieren.

Klar ist jetzt aber auch, dass ein Bundespräventionsgesetz einen Nationalen Diabetesplan keinesfalls ersetzen kann. Denn wir brauchen in Deutschland nicht nur eine funktionierende Früherkennung, wir benötigen auch eine optimierte medizinische Versorgung für die in Spätstadien multimorbide chronische Krankheit Diabetes. Die sektorenübergreifende Schnittstellenproblematik ist immer noch ungelöst, insbesondere an den Schnittstellen der Versorgungsebenen Hausarzt-Facharzt, ambulant zu stationär sowie ärztlicher Bereich und Pflege. Das führt zu Informationsverlusten und Reibungsverlusten entlang der Versorgungskette und damit zu vermeidbaren Kosten. Es bedarf des Aufbaus einer Versorgung, die es ermöglicht, dass auch in Zukunft die älter werdenden Menschen mit einem höheren Chronikeranteil gut versorgt werden können. Dazu gibt es bereits fertige integrierte Versorgungsmodelle. So haben der Hausärzteverband (HÄV), der Bundesverband der Niedergelassenen Diabetologen (BVND) und der Bundesverband der Diabetologen an Kliniken (BVDK) sich bereits auf ein solches geeinigt: Die Versorgungslandschaft Diabetes ist ein hausarztzentriertes, flächendeckendes, patientenzentriertes und sektorenübergreifendes Versorgungsmodell, das aufzeigt, dass man auch ohne Sektorengrenzen arbeiten könnte – leider liegt es in der Schublade, weil der politische Impuls von den Kostenträgern zur Implementierung fehlt.

Dringend benötigt wird weiterhin ein Diabetesregister analog im Aufbau zum Krebsregister, denn es fehlen belastbare bundesweite Daten, die die Versorgungsrealität abbilden und eine verlässliche Basis für politische Nachsteuerungen liefern. Ein reines nationales Diabetesüberwachungssystem (Diabetes-Surveillance), wie es sich das BMG vorstellt, ist nicht ausreichend.

Die Zahl der akademischen Lehrstühle in der Diabetologie darf nicht weiter abnehmen! Es braucht mindestens in jedem Bundesland einen diabetologischen Lehrstuhl. Lehrstühle sind die Voraussetzung, um auch künftig für die wachsende Zahl der Patienten ausreichend gut ausgebildete, diabetologisch geschulte Ärzte zu gewinnen. Fehlt die akademische Verankerung, dürfte es schwierig werden, die Versorgung nachhaltig zu verbessern oder Projekte zur Versorgungsforschung aufzulegen. Die Vernetzung von Grundlagen- und klinischer Forschung ist nicht gewährleistet.

Deutschland hat sich gegenüber der UNO und der WHO zum übergeordneten Ziel der Reduktion der NCDs bekannt. Das Europäische Parlament bestärkt die Mitgliedstaaten darin, Nationale Diabetespläne aufzustellen. 17 europäische Länder haben bereits einen solchen, Deutschland noch nicht. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung die berechtigte Forderung nach einem Nationalen Diabetesplan aufnimmt.