Z Sex Forsch 2015; 28(1): 43-51
DOI: 10.1055/s-0034-1399049
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von der erotischen „Wertsphäre“ zur modernen Sexualität

Sven Lewandowski
a   Institut für Politikwissenschaft und Soziologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
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Publication Date:
24 March 2015 (online)

Mit dem Namen Max Weber verbindet man – gerade auch im Jahr seines 150. Geburtstags[1] – üblicherweise Themen wie charismatische und bürokratische Herrschaft, Rationalisierung und Werturteilsfreiheit, protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus, nicht jedoch Erotisches oder Sexuelles. Gleichwohl bietet Max Webers Soziologie einer Analyse der modernen Sexualität eine Mehrzahl von Ansatzpunkten. Und auch abseits der von Joachim Radkau (2005) exzessiv verfolgten Frage nach dem sexuellen Begehren der Person Max Webers und seinen Spuren in Webers Werk lassen sich die meisten der klassischen Konzepte Webers auf Sexualität beziehen und/oder für eine Analyse der modernen Sexualität fruchtbar machen. Prägen nicht religiös grundierte Lebensformen und Anschauungen seit jeher das Sexuelle? Wurde Sexualität nicht ebenso rationalisiert wie Religion, Wissenschaft und Kunst? Und stellt sich die zeitgenössische Sexualität nicht – sowohl im Vergleich mit der Romantik als auch in der Alltagssexualität – als entzaubert dar? Zumindest in der sozialwissenschaftlich orientierten Sexualforschung gilt es als Konsens, dass Sexualität nicht länger das große Versprechen, das große Andere, zugleich aber auch nicht länger eine Gefahr für die Gesellschaft ist. Die kulturelle Sexualüberschätzung scheint an ein Ende gekommen zu sein und Sexualität endgültig entzaubert und entdämonisiert. Sexuelles Begehren ist nicht länger Triebschicksal, sondern ein Element bzw. eine Frage des Lebensstils geworden. Zugleich scheint der Zugriff des Religiösen auf das Sexuelle weitgehend gebrochen – zumindest in modernen, westeuropäischen Gesellschaften.[2] Von der protestantischen Askese, die Weber so prominent beschreibt, scheint jedenfalls wenig übrig geblieben zu sein.

Schließlich ließe sich Max Webers kulturpessimistischer Einschlag ebenfalls auf die moderne Sexualität bzw. auf die zeitgenössische Kritik an der ‚Entfesselung‘ des selbstreferentiell gewordenen Sexuellen anwenden und nach Zwängen fragen, die die freigesetzte Sexualität hervorbringt. Stichworte wären hier etwa die partielle Umwandlung des Primats der Lust in einen Imperativ der Lust, ferner die Formen, in denen sich dieser Imperativ oder auch Zwang niederschlägt.

Wesentlich weniger bekannt als die eben angesprochenen Konzepte Webers sind seine Ausführungen zur Sexualität, die die Soziologie meist vernachlässigt hat, die im Folgenden aber im Mittelpunkt stehen sollen. Diese Vernachlässigung ist umso bemerkenswerter, als sich der wesentliche Kern von Webers Ausführungen zur Sexualität an durchaus prominenter Stelle in seinem Werk findet, nämlich in der bekannten Zwischenbetrachtung im ersten Band seiner Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen (Weber 1915).

Auf diese Zwischenbetrachtung möchte ich mich zu einen deshalb stützen, da es dieser Text ist, in dem sich Weber einerseits am ausführlichsten und kompaktesten zum Sexuellen äußert und es zugleich mit seinen Ansätzen einer Differenzierungstheorie verknüpft. Andererseits ist es genau diese Verknüpfung, die mich interessiert und an die anknüpfend sich eine Theorie der Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Sexuellen entwickeln lässt, wie sie mir vorschwebt (und die ich in einer Reihe von Publikationen zu skizzieren versucht habe, etwa: Lewandowski 2004, 2008, 2012).

An Webers Zwischenbetrachtung sticht zunächst ins Auge, dass sie Sexualität auf der gleichen Ebene wie Ökonomie (Weber 1915: 214 f.), Politik (ebd.: 215 ff.), Ästhetik/Kunst (ebd.: 221 f.) und Wissenschaft/Erkenntnis (ebd.: 227 ff.) behandelt.[3] Inwieweit sich in Webers soziologischer Nobilitierung des Erotischen bzw. Sexuellen eigene Erfahrungen seiner letzten Lebensphase und des partiellen Ausbruchs aus der Ehe mit Marianne niederschlagen, soll hier keine Rolle spielen – der sexuelle Verdacht gegen jeden, der sich wissenschaftlich mit Sexualität befasst, ist ohnehin ein Fluch und ein Irrweg obendrein.

In der Zwischenbetrachtung skizziert Weber in idealtypischer Weise – im Sinne einer Theorie sozialer Differenzierung – eine Reihe von „Wertsphären“, die sich von religiösen Kontexten abgrenzen lassen und mit diesen, aber auch untereinander qua interner, d. h. je spezifischer Rationalisierung in Konflikt geraten können. In der Vorrede zum ersten Band seiner Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie definiert Weber zunächst seinen Rationalisierungsbegriff und formuliert prägnant, dass man „jedes dieser Gebiete (mystische Kontemplation, Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Erziehung, Krieg, Recht, Verwaltung – S. L.) unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen ‚rationalisieren’ [kann]“, wobei er betont, dass „was von einem aus ‚rational‘ ist, […] vom anderen aus betrachtet, ‚irrational‘ sein [kann]. Rationalisierungen hat es daher auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben. Charakteristisch für deren kulturgeschichtlichen Unterschied ist erst: welche Sphären und in welche Richtung sie rationalisiert wurden“ (Weber 1920: 11 f., Herv. im Original).

Was bietet nun aber Webers Soziologie und insbesondere die in der Zwischenbetrachtung skizzierte Theorie einer Differenzierung unterschiedlicher Wertsphären einer Soziologie des Sexuellen? Und wie ist es mit der von Weber postulierten „Eigengesetzlichkeit“ der erotischen Wertsphäre bestellt?

Zunächst fällt auf, dass Weber (1915: 222) die „geschlechtliche Liebe“ als „größte[.] irrationale[.] Lebensmacht“ bezeichnet, die zur „religiösen Brüderlichkeit (…) in einem tiefen Spannungsverhältnis“ steht. Freilich ist diese Aussage ebenso trivial wie traditionell, gleichsam eine Binsenweisheit des bürgerlichen Empfindens um 1900, aber Weber fährt fort: „Und zwar auch hier um so schroffer, je sublimierter die Geschlechtlichkeit einerseits, je rücksichtsloser konsequent die Erlösungsethik der Brüderlichkeit anderseits entwickelt wird.“ Auf diese Weise skizziert Weber eine wechselseitige Entflechtung respektive (Aus-) Differenzierung durch und mittels jeweils eigenständiger Rationalisierungsprozesse. Wie in der gesamten Zwischenbetrachtung scheint auch hier – wie sich in heutiger Theoriesprache formulieren lässt – das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Aus- und Binnendifferenzierung durch: Aus der je eigengesetzlichen Rationalisierung der einzelnen Wertsphären resultiert ihre zunehmende Distanz zueinander und aus dieser entwickelt sich schließlich eine hochgradig in Wertsphären differenzierte moderne Gesellschaft. Wie lässt sich nun aber mit Weber die Rationalisierung der „geschlechtlichen Liebe“ fassen?

Zunächst erfordert eine Soziologie des Sexuellen ganz grundlegend und prinzipiell eine konsequente Historisierung dessen, was wir als Sexualität zu bezeichnen gewohnt sind. Ohne dies hier näher ausführen zu können, hat das Sexuelle nicht nur eine Geschichte, sondern „Sexualität“ (im heutigen Sinne) ist ein Produkt, ja eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Man kann diesen Gedankengang auch im Sinne Max Webers, ja sogar in seinen Worten formulieren. In der Vorbemerkung zum ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie schreibt er über die Entwicklung des modernen Kapitalismus okzidentaler Prägung: „‚Erwerbstrieb‘, ‚Streben nach Gewinn’, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Aerzten (sic!), Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei ‚all sorts and conditions of men‘, zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war. […]. Schrankenlose Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen ‚Geist’. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes“ (Weber 1920: 4, Herv. im Original).

Webers Argument, dass Geiz, Gewinnstreben und die Anhäufung von Reichtum noch keinen Kapitalismus machen, sondern erst ein bestimmter Geist, bestimmte kulturelle wie psychische Formen diesen ermöglichen bzw. hervorbringen, lässt sich – mutatis mutandis – auf Sexualität übertragen: Das Streben nach Lust, Geschlechtsverkehr und erotischen Sensationen etc. hat mit Sexualität im modernen Sinne „gar nichts zu schaffen. Dies Streben fand und findet sich (…) bei ‚all sorts and conditions of men‘, zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war“ (ebd.). Aber „schrankenlose“ Gier nach Lust „ist nicht im mindesten gleich“ moderne Sexualität. Sexualität im modernen Sinne „kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes“ (ebd.). Allgemein formuliert kann man sagen, dass menschliche Sexualität dort anfängt, wo sie das Biologische überschreitet, anders gesagt: dort, wo sich – um Webers Worte zu gebrauchen – „Rationalisierung“ und „Sublimierung“ des Triebes bzw. der Triebstruktur bemächtigen.

Freilich ist Weber im Rahmen seiner Begrifflichkeiten nur sehr bedingt in der Lage, die Genese menschlicher im Gegensatz zu animalischer Sexualität einerseits und die Genese der modernen Sexualität (terminologisch wie sachlich) auseinanderzuhalten.[4]

Weber versucht jedoch, eine Abgrenzung dadurch zu erreichen, dass er sowohl mit verschiedenen Begrifflichkeiten operiert – geschlechtliche Liebe, Erotik, Sexualität – und andererseits bemüht ist, diese in eine spezifische kultur-evolutionäre Ordnung zu bringen. Durch ihre „Sublimierung zur ‚Erotik‘“ werde Sexualität „zu einer (…) bewußt gepflegten und damit außeralltäglichen Sphäre“ (Weber 1915: 223, Herv. im Original). Bemerkenswert ist hier ein Einschub, der verrät, welche Form des Sexuellen bzw. Erotischen Weber im Auge hat, nämlich die des Bürgertums. Der Einschub lautet nämlich: „im Gegensatz zu dem nüchternen Realismus der Bauern“ (ebd., Herv. S. L.). Die sublimierte Sexualität in der Form der Erotik ist in Webers Augen also Ausdruck einer bestimmten Form der Lebensführung respektive der Selbstdisziplinierung des Bürgertums, gleichsam weder Exzess noch Kulturlosigkeit. Man liebt und isst nicht wie ein Bauer, aber auch nicht wie der Adel. Freilich soll es an dieser Stelle weder um Webers Klassenvorurteile noch um sein Standesbewusstsein gehen.

Die von Weber analysierte Form der Sublimierung bzw. Rationalisierung des Geschlechtlichen lässt sich als eine Binnenrationalisierung bzw. Binnendifferenzierung des Sexuellen fassen, die zugleich eine Ausdifferenzierung einer erotischen Wertsphäre vorantreibt. Weber argumentiert jedoch, dass es im Kontext der „Rationalisierung und Intellektualisierung der Kultur“ zu einer „Steigerung einer Sonderstellung der Erotik“ komme: „Sie wurde in die Sphäre des bewußt (im sublimsten Sinne:) Genossenem erhoben. Sie erschien dennoch und eben dadurch als eine Pforte zum irrationalsten und dabei realsten Lebenskern gegenüber den Mechanismen der Rationalisierung. Grad und Art, in welchem dabei auf die Erotik als solche ein Wertakzent fiel, war historisch außerordentlich wandelbar“ (Weber 1915: 223). Und weiter: „Die letzte Steigerung des Akzents der erotischen Sphäre vollzog sich auf dem Boden intellektualistischer Kulturen schließlich da, wo sie mit dem unvermeidlich asketischen Einschlag des Berufsmenschentums zusammenstieß. Es konnte unter diesem Spannungsverhältnis zum rationalen Alltag das außeralltäglich gewordene, speziell also das ehefreie, Geschlechtsleben als das einzige Band erscheinen, welches den nunmehr völlig aus dem Kreislauf des alten einfachen organischen Bauerndasein herausgetretenen Menschen noch mit den Quellen des Lebens verband. Die so entstehende gewaltige Wertbetontheit der spezifischen Sensation einer innerweltlichen Erlösung vom Rationalen […]“ (Weber 1915: 224).

Max Weber entwirft also das Bild einer sublimierten Erotik, die zugleich als ein Gegenbild, ja Gegenkonzept zur rationalisierten Moderne fungiert, jedoch gleichfalls rationalisiert und mithin gesteigert wird. Seine Argumentation lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass auch die Ausbildung einer erotischen Sphäre Ergebnis einer allgemeinen gesellschaftlichen Rationalisierungstendenz ist. Diese wirkt sowohl von außen auf das Erotische ein als auch innerhalb seiner Sphäre (der nämliche Zusammenhang kann in systemtheoretischer Diktion als ein Zusammenwirken von Aus- und Binnendifferenzierung gefasst werden): Indem in der erotischen Sphäre weitere Sublimierungen und Höhersteigerungen, weiteres Raffinement und ausgesuchtere Diskurse und Praktiken erprobt werden, entfernt sich das Erotische nicht nur weiter von plump sexueller Triebhaftigkeit, sondern zugleich wachsen Distanz und Fremdheit zu außererotischen Sphären. Insbesondere gilt dies, wie von Weber (1915: 222 – 227) herausgearbeitet, für das Verhältnis der erotischen zur religiösen Sphäre; analog aber auch im Hinblick auf Wirtschaft, Kunst, Politik, Recht und Moral.

Auch in seinem Torso gebliebenem, posthum veröffentlichtem (Haupt-) Werk Wirtschaft und Gesellschaft betont Weber den Einfluss der allgemeinen Rationalisierung der Lebensbedingungen auf die sexuelle Sphäre und argumentiert, „daß die Geschlechtssphäre zur Grundlage spezifischer Sensationen, zur ‚Erotik‘ sublimiert, damit eigenwertgesättigt und außeralltäglich wird“ (Weber 1922: 139, Herv. im Original).[5]

Webers Argumentationsgang ist insofern bemerkenswert, als er die Ausbildung einer erotischen Wertsphäre hier nicht auf eine Freigabe des Sexuellen, sondern, ganz im Gegenteil, auf die Sublimierung des Sexuellen zum Erotischen, also auf Einschränkungen der Sexualität zurückführt. Gerade weil sich „ökonomische Sippeninteressen“ und „ständische Konventionen“ (Weber 1922: 139) für das Sexuelle interessieren, wird dieses in den Bereich des Außeralltäglichen, des Besonderen verwiesen. Und auf Basis dieser Sonderung vom Alltagsleben, also auf Grundlage einer Beschränkung, erwachsen Möglichkeit und Notwendigkeit zur Sublimierung und damit zugleich zur Ausbildung einer genuin erotischen Wertsphäre. Deren Ausbildung kann somit als Reaktion auf eine allgemeine Rationalisierung des Lebens verstanden standen werden, die sich als Sublimierung auch auf dem Gebiet des Erotischen niederschlägt. Das Erotische gerät also gleichsam in den Sog der Entwicklung der Gesamtgesellschaft, in ihren ‚structural drift‘ und die Ausbildung der erotischen Wertsphäre verdankt sich genau diesem.

Die Argumentationsfigur Webers ähnelt insofern systemtheoretischen Figuren, als sie die Ausbildung einer bestimmten Wertsphäre als Effekt einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung deutet; im Falle Webers der allgemeinen Rationalisierung des Lebens, im Falle des systemtheoretischen Denkens den expansiven Tendenzen funktionaler Differenzierung. Der entscheidende Unterschied liegt freilich darin, dass die Systemtheorie Entkopplungstendenzen stärker betont, während Weber – zumindest an dieser Stelle – die Abgrenzung und Ausbildung der erotischen Wertsphäre eher den Zugriffsversuchen der Rationalisierungslogik anderer gesellschaftlicher Bereiche – insbesondere Religion, Ökonomie und Politik – auf das Sexuelle geschuldet sieht. Die Ausbildung einer erotischen Wertsphäre sieht er also mehr als Reaktion auf Einschränkungen des freien Geschlechtsverkehrs denn als Effekt einer sozialstrukturellen Freigabe des Sexuellen. Beide Argumentationsstränge lassen sich jedoch im Sinne einer historischen Entwicklungslinie verbinden.

Mit Weber lässt sich die Ausbildung einer erotischen Wertsphäre als Effekt einer allgemeinen gesellschaftlichen Rationalisierung einerseits und einer Verdrängung bzw. Verbannung des Sexuellen aus dem alltäglichen Leben sowie aus anderen Wertsphären anderseits denken. Nicht die Freigabe des Sexuellen ist also der Movens der Entwicklung, sondern ganz im Gegenteil, seine Ein- und Beschränkung. Die Eigenevolution des Erotischen wird gewissermaßen durch seine Verdrängung aus dem Alltag wie durch das allgemeine Auseinandertreten verschiedener Wertsphären angestoßen.

Eine zweite, historisch später einsetzende Entwicklungslinie ist die Freisetzung des Sexuellen, die sich der gesellschaftsweiten Durchsetzung des Primats funktionaler Differenzierung verdankt. Man kann diese Freisetzung auch als eine Freisetzung des Sexuellen von der erotischen Sublimierung verstehen. Entscheidend ist vor allem der sozialstrukturelle Bedeutungsverlust des Sexuellen (vgl. Lewandowski 2010).

Zunächst wird also – folgt man Weber – Sexualität dadurch auf einen Pfad eigener Evolution gesetzt, der zur Ausbildung einer genuin erotischen Wertsphäre führt, da sie aus dem alltäglichen Leben ausgrenzt wird und zu etwas Besonderem, etwas Außeralltäglichem wird. Sie wird gewissermaßen von anderem abgekoppelt; ihre Eigenentwicklung wird von außen angestoßen. Außeralltäglich wird sie gleichsam nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern dadurch, dass die allgemeine Rationalisierung des Lebens für sie keinen Platz im alltäglichen Leben vorsieht. Die Genese der erotischen Wertsphäre erfolgt sozusagen defensiv bzw. aus der Defensive heraus.

Mit der schließlichen Durchsetzung funktionaler Differenzierung ändert sich die Lage. Hatten zuvor die Durchrationalisierung des Lebens und die Ausbildung verschiedener Wertsphären das Erotische einhegt und zu beschränken versucht, so fallen in dem Maße, wie sich die Weber’schen Wertsphären als Funktionssysteme schließen, jene Restriktionen weg, die das Sexuelle in den Bereich des Außeralltäglichen verbannt hatten. Stattdessen schält sich nicht nur eine Eigenwelt des Sexuellen heraus, sondern es etablieren sich Sinngrenzen, die den Bereich des Sexuellen als spezifischen Sinn- und Sozialbereich etablieren und schließlich zur Systembildung führen.

Folgt man der bisherigen Argumentation, nimmt man also an, dass wir es mit einer ausdifferenzierten Sexualität zu tun haben, die sich einerseits von anderen Sozialbereichen und Funktionssystemen abgekoppelt hat und andererseits autonom nach eigenen Regeln operiert – sich also primär an Lust, Begehren und Befriedigung orientiert –, so kann man mit einer weiteren bzw. letzten Weber’schen Argumentationsfigur fragen, ob nicht nur eine Rationalisierung des Sexuellem im Sinne einer Höhersteigerung stattgefunden, sondern auch, ob das Sexuelle entzaubert wurde.

Aus Webers Protestantischer Ethik mag uns die Formulierung „‚Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz’“ (Weber 1920: 204) noch im Ohr sein und man kann mit Recht fragen, ob dies oder analoges auch auf die moderne Sexualität zutrifft. Ebenso könnte man fragen, wie es sich auf sexuellem Gebiete mit dem sprichwörtlich gewordenen „stahlharten Gehäuse“ der „Hörigkeit“ (Weber 1918: 221, vgl. auch: 1920: 203) verhält.

Die erwähnte Binnendifferenzierung der zeitgenössischen Sexualität entlang von sexuellen Identitäten, Begehrensformen, communities und sexualmoralischen Milieus respektive die „neosexuelle Revolution“ (Sigusch 1998) wird durch die Etablierung einer Konsens- und Verhandlungsmoral abgesichert, die sich einer Bewertung sexueller Handlungen enthält und sich stattdessen auf ihr Zustandekommen fixiert („Legitimation durch Verfahren“).

Die Konsens- und Verhandlungsmoral impliziert freilich eine erhebliche Kontrolle dessen, was einst Trieb genannt und als Trieb erfahren wurde. In dieser Hinsicht und vielleicht mit altmodischer Trauer vermischt könnte man formulieren, dass das Sexuelle nicht nur rationalisiert, kultiviert und zivilisiert wurde, sondern auch seiner ehemaligen bzw. ehemals angenommenen Kraft beraubt wurde. So kann nicht nur die empirische Sexualforschung zeigen, dass die kulturelle Sexualüberschätzung an ein Ende gekommen zu sein scheint – niemand erwartet mehr von der Freigabe des Sexuellen eine gesellschaftliche Revolution, noch den Untergang des Abendlandes – und zugleich lässt sich mit Weber oder doch auf Webers Spuren zeigen, warum die vom Sexuellen erwartete Revolution ausgeblieben ist: Gerade weil sich Sexualität zu einer Wertsphäre unter anderen entwickeln hat, weil ihr auf diese Weise ein Weg der Eigenevolution eröffnet wurde, der sie zwar in Konflikt mit anderen Wertordnungen und Wertsphären – insbesondere der Religion – bringt, diesen Konflikt aber zugleich dadurch entschärft bzw. latent hält, dass sich eine Mehrzahl eigenrationaler und eigendynamischer gesellschaftlicher Wertsphären entwickelt, kann sich Sexualität autonomisieren. Dass dabei der revolutionäre Impetus ebenso wie die Illusion der gesellschaftsverändernden Kraft des Sexuellen verloren geht, mag man bedauern. Zugleich kann man an Webers Formulierungen, das Sexuelle biete „eine spezifische[.] Sensation einer innerweltlichen Erlösung vom Rationalen“ (Weber 1915: 224) und das Erotische eröffne die „Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als Schwinden des ‚Du‘ gefühlt wird“ (Weber 1915: 225, Herv. im Original), ermessen wie weit wir uns von Weber und dem Empfinden seiner Epoche entfernt haben.

Kann man also mit Blick auf die heutige Zeit von einer Entzauberung des Sexuellen sprechen? Ich denke schon. Zum einen hat sich das Wissen über Sexualität nicht nur verändert, sondern entscheidend ausgeweitet und zum anderen hat im Zuge der Verbreitung des Wissens auch eine Entmystifizierung und Entdramatisierung der Sexualität stattgefunden (Schmidt 2005: 161 ff.; vgl. auch Sigusch 2005: 8). Sexualität ist weder – wie noch vor zwei, drei Generationen – das große Versprechen, das große Andere, noch die geheime, dunkle Kraft des Triebes oder gar des Schicksals, von dem man sich eine Transformation der eigenen Person respektive der Gesellschaft verspricht. Vergegenwärtigt man sich den sexuellen Wandel der letzten Dekaden, so ist das Sexuelle alltäglicher, zugleich auch unproblematischer, vielleicht rationaler, vor allem aber selbstverständlicher geworden. Man mag dies als Ernüchterung oder mit Webers Worten auch als Entzauberung beschreiben. Ich würde freilich eher Begriffe wie Abgeklärtheit vorziehen und nicht zuletzt auf die negativeren Aspekte einer „verzauberten“ Sexualität verweisen wollen, nämlich im Hinblick auf Erotik auf Geschlechterungleichheit, im Hinblick auf sexuelle Handlungen bzw. Praktiken auf Risikosexualität und im Hinblick auf Jugendsexualität auf Verhaltensunsicherheit, drängende Triebe und Verklemmtheit. Und schließlich im Hinblick auf abweichende Begehrensformen: Unterdrückung, Existenzängste, Selbstzweifel und Intoleranz. Vor diesem Hintergrund ist eine Entzauberung und Entmystifizierung des Sexuellen vielleicht nicht das sexuelle Paradies, vielleicht aber auch nicht der schlechteste Effekt einer Ausdifferenzierung einer sexuellen Wertsphäre. Vor vielen Jahren hat bereits Gunter Schmidt das Loblied der Alltagssexualität angestimmt, die vielleicht nicht allzu spektakulär, möglicherweise etwas langweilig, aber doch befriedigend und zugleich nicht ängstigend ist. Und damit möchte ich es vorerst – ganz rationalisiert und unromantisch – belassen.