Z Sex Forsch 2015; 28(03): 209-211
DOI: 10.1055/s-0035-1553691
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

Peer Briken
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 October 2015 (online)

Die Arbeiten dieses Heftes entstanden anlässlich eines Symposiums, das zum 70. Geburtstag von Wolfgang Berner unter dem Titel „Introspektion und Empirie – Innen- und Außenansichten des Sexuellen“ am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf veranstaltet wurde.

Das Zusammenspiel verschiedener Perspektiven, die Sexualität durch Introspektion und persönliche Reflexion von Patienten und Therapeuten oder durch empirische Wissenschaften messbar machen wollen, hat am Hamburger Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie eine lange Tradition. Der Gründer des Instituts Hans Giese (1920 – 1970) war einerseits durch Philosophie (u. a. Martin Heidegger) und anthropologische Psychiatrie (z. B. Viktor Freiherr von Gebsattel) beeinflusst (z. B. Giese 1962), arbeitete aber auch schon für seine medizinische Promotion in den 1950iger-Jahren empirisch (Giese 1958). Gunter Schmidt nahm ab Mitte der 1960iger-Jahre den empirischen Strang (u. a. Arbeiten zur Studentensexualität; Giese und Schmidt 1968) auf und fand damit Anschluss an die Tradition der amerikanischen Sexualwissenschaft Alfred Kinseys und seiner Nachfolger. Volkmar Sigusch, der nach seiner Habilitation von Hamburg auf den Frankfurter Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen wurde, hat mit seiner kritischen Sexualwissenschaft auch einen philosophischen Ansatz entwickelt und vertieft (vgl. dazu den Beitrag „Dem Erfinder Volkmar Sigusch zum Geburtstag“ in diesem Heft). Eberhard Schorsch (1935 – 1991) beschäftigte sich als Vorgänger von Wolfgang Berner zentral mit den Innenperspektiven von Sexualstraftätern unter der Frage, was Lust und Aggression bis hin zur Destruktivität verbindet (Schorsch und Becker 1977). Er arbeitete aber auch empirisch z. B. zur typologischen Differenzierung von Sexualstraftätern (Schorsch 1971) oder mit seinem damaligen Team zur Sexualstraftätertherapie (Schorsch et al. 1985). Er hat in vielen seiner Arbeiten den Wechsel von einer Perspektive in die andere genutzt.

In der Zeit zwischen 1995 und 2010 wurden die Traditionen beider Perspektiven weiter gepflegt. Gunter Schmidt sorgte für Nachwuchs in der empirischen sozialwissenschaftlichen Sexualforschung, die in der Folge von Silja Matthiesen und Arne Dekker repräsentiert werden. Wolfgang Berner und Hertha Richter-Appelt, beide einerseits psychoanalytisch weitergebildet (und entsprechend therapeutisch tätig) und andererseits in ihren universitären Funktionen aufgerufen, methodisch den Anforderungen aktueller Forschung entsprechende Forschungsprojekte durchzuführen und zu veröffentlichen, trugen ebenfalls diesen Wechsel der Perspektiven in sich. Von beiden durfte ich sowohl in meiner klinischen Weiterbildung als auch in der Entwicklung von Forschungsfeldern und –methoden lernen.

Das vorliegende Heft versucht den Bogen über die verschiedenen Perspektiven zu spannen, vom Nachdenken eines Psychoanalytikers über die masturbatorische Position und wie diese sich in Übertragung und Gegenübertragung äußert (Thomas Stark) zu den Studien zur Studentensexualität mit der Methodik der empirischen Sexualforschung (Arne Dekker und Silja Matthiesen). Dazwischen liegen Arbeiten, die Bindungsstile (deren Diagnose auf Selbst- und Fremdbeobachtung angewiesen ist) und Abwehrstrukturen (das Borderlinesyndrom) auf ihr organisches Korrelat im Gehirn untersuchen (Kindl et al.) und die Arbeit von Wolfgang Berner – in der beide Perspektiven auf die Begriffe Lust, Begehren, Trieb, Autoerotismus, Narzissmus und Beziehungsbedürfnis angewendet werden. Sie sollen zeigen, dass die gegenseitige Beeinflussung der beiden Perspektiven zu tieferen Einsichten führt und im Weiteren zu einer Differenzierung der beiden Perspektiven selbst. Mein eigener Beitrag zeigt die Auswirkungen einer Kombination beider Perspektiven auf den diagnostischen Prozess. Sie greift in ihrem Titel Kann Sexualität erkranken? das Thema auf, das die Antrittsvorlesung von Wolfgang Berner bestimmt hat, in der es hieß: Wann ist das Begehren krank? (Berner 1996). Die Ausführungen können einerseits als Versuch einer Weiterentwicklung verstanden werden. Die Benützung des Konzepts der Desintegration ist auf die Introspektion des Betroffenen angewiesen. Andererseits handelt es sich auch um den Rückgriff auf eines der älteren Konzepte der Psychiatrie – in der Gestaltzerfall als eine dynamische Grundkonstellation von Krankheiten beschrieben wurde (Janzarik 1959).

Ich danke den Autorinnen und Autoren, die uns zunächst bei der Veranstaltung und nun mit ihren Arbeiten unterstützt haben. Unseren Leserinnen und Lesern wünsche ich eine bereichernde Lektüre oder Nachlese.