Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83(09): 489
DOI: 10.1055/s-0035-1553791
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neue Entwicklungen in der Pharmakotherapie bei Schwindel und Gleichgewichtsstörungen

New Developments in Pharmacotherapy of Vertigo and Balance Disorders
M. Dieterich
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Publication Date:
30 September 2015 (online)

Medikamentöse Entwicklungen in der Neurologie wurden in der letzten Dekade vor allem durch die Einführung neuer Präparate für neuroimmunologische Erkrankungen –insbesondere für die Multiple Sklerose –, die Epilepsie und das Parkinson-Syndrom dominiert. Dies ist bis heute für die Pharmakotherapie der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose so geblieben, da erfreulicherweise eine Reihe neuer Wirkprinzipien entschlüsselt werden konnte.

Fast unbemerkt gab es in derselben Zeit die Einführung mehrerer neuer Therapieprinzipien zur Behandlung von Schwindel, Nystagmus und zerebellären Gleichgewichtsstörungen. Ein wesentliches neues Therapieprinzip stellen hier die Aminopyridine dar, bei denen es sich um reversible nicht-selektive Kaliumkanal-Blocker handelt, die jetzt meist in der retardierten Form als Fampyridin zur Anwendung kommen. Der Wirkmechanismus beruht auf der Aktivierung der Purkinjezellen des Kleinhirns (durch Blockade von Kaliumkanälen) und auf der Verstärkung und damit Normalisierung der Aktivität des inhibitorischen Einflusses von GABA auf vestibuläre und zerebelläre Neurone. Dies erklärt, warum Aminopyridine bei mehreren Arten von zentralen Augenbewegungsstörungen (wie Downbeat-Nystagmus und Upbeat-Nystagmus) [1] [2] und Kleinhirnataxien (wie der episodischen Ataxie Typ 2) [3] wirksam sind, sogar zum Mittel der ersten Wahl wurden und damit bei der episodischen Ataxie Typ 2 den Carboanhydrasehemmer Acetazolamid abgelöst haben. Ihre Wirksamkeit für die Behandlung von Patienten mit Downbeat-Nystagmus und episodischer Ataxie Typ 2 wurde in kontrollierten randomisierten Studien belegt. Mithilfe von Bildgebungsuntersuchungen bei Patienten mit Downbeat-Nystagmus konnte gezeigt werden, dass diese Störung pathophysiologisch auf einer Insuffizienz der hemmenden Aktivität von Purkinjezellen im Kleinhirn beruht [4] [5]: Die Inhibition im Flokkulus/Paraflokkulus und damit auch der Downbeat-Nystagmus konnten durch die Gabe von 4-Aminopyridin signifikant verbessert werden. Angeregt durch die positiven Ergebnisse in der klinischen Anwendung von 4-Aminopyridin bei der episodischen Ataxie Typ 2, wurde die Wirksamkeit auch tierexperimentell an der sog. „tottering mouse“ untersucht und durch eine Reduktion der Attackenfrequenz bestätigt [6]. Weniger deutlich als bei Patienten mit genetisch bedingter episodischer Ataxie sind die Effekte bei degenerativen Kleinhirnerkrankungen, wo in ersten Anwendungsbeobachtungen eine Abnahme der Ganginstabilität und damit der Sturzgefahr gesehen wurde.

Vielversprechend ist nach mehreren Beobachtungsstudien auch das Wirkprinzip der modifizierten essenziellen Aminosäure Acetyl-DL-Leucin, die in Frankreich schon lange frei verkäuflich auf dem Markt ist und erfreulicherweise sehr wenige Nebenwirkungen hat. Sie kann die zerebellären Funktionsstörungen sowohl der Motorik und Sprache als auch der Okulomotorik bei Ataxien verbessern [7]. Laut tierexperimentellen Studien soll die Aminosäure durch Einlagerung in die Zellmembran und Interaktion mit Phospholipiden zu einer Normalisierung des Membranpotenzials führen [8].

Diese neuen Erkenntnisse der letzten Jahre zur Pharmakotherapie zentral vestibulärer Syndrome mit Schwindel, Gang- und Okulomotorikstörungen sind vor allem ein Verdienst der Arbeitsgruppe um Michael Strupp, die in diesem Heft dazu eine aktuelle Übersicht über „Medikamentöse Therapiemöglichkeiten bei vestibulären Störungen, Nystagmus und zerebellären Ataxien“ gibt [siehe S. 490]. In dieser Übersichtsarbeit über periphere und zentrale Erkrankungen, die zu Schwindel, Gleichgewichts- und Gangstörungen führen, wird u. a. auch über die aktuelle Studienlage zur Anwendung von Kortikosteroiden bei akuten einseitigen Vestibulopathien (früher Neuritis vestibularis genannt) und von Betahistin – einem starken H3-Antagonist und schwachen H1-Agonist – beim Morbus Menière mit häufigen Attacken kritisch referiert. Nicht vergessen sollte man schließlich die dem Kliniker bekannte, hervorragende Wirksamkeit von niedrigdosiertem Carbamazepin bei der Vestibularisparoxysmie, einer neurovaskulären Kompression des 8. Hirnnervs [9]. Allerdings fehlen auch dazu, wie zu anderen häufigen Schwindeldiagnosen wie zum Beispiel der vestibulären Migräne oder dem somatoformen (funktionellen) Schwindel, noch die Daten randomisierter, placebo-kontrollierter Studien, die derzeit durchgeführt werden, sodass wir bald auf neue Erkenntnisse hoffen dürfen.

Ich wünsche den Lesern, dass sie ein paar neue Anregungen für ihre tägliche Arbeit mitnehmen können.

Die Literatur finden online unter:
http://dx.doi.org/10.1055/s-00351553791

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Univ.-Prof. Dr. M. Dieterich

Ergänzendes Material

 
  • Literatur

  • 1 Strupp M, Thurtell MJ, Shaikh AG et al. Pharmacotherapy of vestibular and ocular motor disorders, including nystagmus. J Neurol 2011; 258: 1207-1222
  • 2 Strupp M, Schuler O, Krafczyk S et al. Treatment of downbeat nystagmus with 3,4-diaminopyridine: a placebo-controlled study. Neurology 2003; 61: 165-170
  • 3 Strupp M, Kalla R, Dichgans M et al. Treatment of episodic ataxia type 2 with the potassium channel blocker 4-aminopyridine. Neurology 2004; 62: 1623-1625
  • 4 Kalla R, Deutschländer A, Hüfner K et al. Detection of floccular hypometabolismus in downbeat nystagmus by fMRI. Neurology 2006; 66: 281-283
  • 5 Bense S, Best C, Buchholz HG et al. Hypometabolism in cerebellar tonsil and flocculus in downbeat nystagmus (FDG-PET study). NeuroReport 2006; 17: 599-603
  • 6 Alvina K, Khodakhah K. The therapeutic mode of action of 4-aminopyridine in cerebellar ataxia. J Neurosci 2010; 30: 7258-7268
  • 7 Strupp M, Teufel J, Habs M et al. Effects of acetyl-DL-leucine in patients with cerebellar ataxia: a case series. J Neurol 2013; 260: 2556-2561
  • 8 Vibert N, Vidal PP. In vitro effects of acetyl-DL-leucine (tanganil) on central vestibular neurons and vestibule-ocular networks of the guinea pig. Eur J Neurosci 2001; 13: 735-748
  • 9 Feil K, Böttcher N, Kremmyda O et al. Medikamentöse Therapiemöglichkeiten bei vestibulären Störungen, Nystagmus und zerebellären Ataxien. Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83: 490-498