manuelletherapie 2015; 19(04): 154-156
DOI: 10.1055/s-0035-1564332
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief 2 zu: Hirschmann E. Der „Manuelle Therapie-Dschungel“ in Deutschland. manuelletherapie 2015; 19: 56–5

Jochen Schomacher
1   Alte Landstr. 142; 8700 Küsnacht ZH; Schweiz
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Publication Date:
16 September 2015 (online)

Sehr geehrter Herr Hirschmann,

Ihr Beitrag ist ein Plädoyer für die große Weiterbildung zur Orthopädischen Manuellen Therapie (OMT) – zu Recht, denn da sie 3-mal länger dauert als die Zertifikatsweiterbildung, muss sie fast zwangsläufig zu besseren Ergebnissen führen. Sie empfehlen den Kollegen, ihre Zertifikatsweiterbildung bei den 4 Gruppen der Deutschen Föderativen Arbeitsgemeinschaft für Manuelle Therapie (DFAMT) zu absolvieren, die eine große OMT-Weiterbildung anbieten, denn diese würden „einen international vergleichbaren Standard enthalten und eine optimierte Kommunikation und Patientenversorgung ermöglichen“. Dank dieser 4 Gruppen würden aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der International Federation of Orthopaedic Manipulative Physical Therapists (IFOMT) die „neuesten Entwicklungen und der höchstmögliche Standard auch in Deutschland Einzug in die Weiterbildung“ erhalten. Damit raten Sie sozusagen davon ab, die MT-Weiterbildung bei einem der 76 anderen Anbieter in Deutschland zu besuchen. Das finde ich recht unkollegial. Erlauben Sie mir, zu Ihrem Beitrag Stellung zu nehmen:

Sie begründen die Qualität der Weiterbildung der DFAMT-Gruppen mit ihrer Zugehörigkeit zur IFOMPT. Qualität lässt sich jedoch nicht an der Zugehörigkeit zu einem Verein wie der IFOMPT messen. Zur Qualitätsbeurteilung einer Weiterbildung gibt es andere Instrumente. Sicher, die DFAMT-Gruppen müssen die IFOMPT-Anforderungen erfüllen. Doch wie wird das kontrolliert? Nur auf dem Papier, das bekanntlich geduldig ist, oder auch durch direktes Beurteilen des Unterrichts von Nicht-DFAMT-Angehörigen?

Die 4 DFAMT-Gruppen unterrichten in den 260 Stunden der MT-Zertifikatsweiterbildung entsprechend denselben von den deutschen Krankenkassen vorgegebenen Richtlinien wie die anderen 76 Anbieter. Was machen die DFAMT-Gruppen Ihrer Meinung nach in diesen 260 Stunden besser? Einen „Standard“ jedenfalls haben sie nicht aufgestellt, da sich die Inhalte der MT-Zertifikatsweiterbildung der 4 Gruppen sehr unterscheiden.

Sie schreiben, dass sich die DFAMT-Gruppen zu „erweiterten Qualitätssicherungsmaßnahmen verpflichtet haben“ und betonen die „Standardisierung“, um die sich die DFAMT bemühe. Für ihre OMT-Weiterbildung akzeptiert die DFAMT die MT-Zertifikatsweiterbildungen aller anderen Anbieter, die sehr unterschiedlich sind. Meines Wissens arbeitet die DFAMT nicht mit den anderen Anbietern an einer Standardisierung dieser Grundausbildung und führt auch keinerlei diesbezügliche Qualitätssicherungsmaßnahmen durch.

Sie betonen, dass die DFAMT-Gruppen aufgrund ihrer IFOMPT-Mitgliedschaft die „neuesten Entwicklungen und den höchstmöglichen Standard“ in MT bieten. Für Beispiele wäre ich Ihnen dankbar, da ich kaum Veröffentlichungen der DFAMT (-Mitglieder) kenne. Diese Entwicklungen zeigen z. B. mit den letzten Cochrane Reviews, dass die Manipulation an der LWS [5], [6], [7] und HWS [3] nicht besser wirkt als andere Techniken und teils als Placebo. Haben diese wissenschaftlichen Erkenntnisse Auswirkungen auf die Weiterbildung in den DFAMT-Gruppen? Und wie viel Manipulation und Mobilisation beispielsweise des Sakroiliakalgelenks werden in den DFAMT-Gruppen unterrichtet, obwohl die europäischen Leitlinien diese ausdrücklich nicht empfehlen [10], [11]? Ich kann Ihnen versichern, dass es MT-Zertifikatsweiterbildungen der anderen Anbieter gibt, die diese Entwicklungen berücksichtigen [9].

Wenn Sie den Kollegen zur Zertifikatsweiterbildung bei den 4 DFAMT-Gruppen aufgrund der dortigen „internationalen Qualität“ raten, deuten Sie an, dass diese Weiterbildungen besser seien als die der 76 anderen Anbieter. Haben Sie deren Unterrichte besucht, sodass Sie diese beurteilen können? Wie können Sie von der Arbeit der Kollegen dieser 76 Anbieter abraten, ohne sie zu kennen? Das empfinde ich als unkollegial und unsachlich! Gerne lade ich Sie ein, in meinen MT-Zertifikatskursen vorbeizuschauen, um sich ein genaueres Bild zu machen. Ich wäre gespannt zu erfahren, was die Anderen Ihrer Ansicht nach scheinbar besser machen!

Natürlich ermöglicht eine 1000-stündige OMT-Weiterbildung mehr Wissensvermittlung als eine 260-stündige Zertifikatsweiterbildung. Wer diese jedoch ernsthaft absolviert und entsprechend lernt, kann in der Patientenversorgung sehr viel besser als vorher werden. Das ist das Hauptziel der Zertifikatsweiterbildung, was sicherlich viele der 76 anderen Weiterbildungsanbieter auch erreichen.

Da ich Ihr uneingeschränktes Lob nicht teile, möchte ich zu der OMT-Weiterbildung noch etwas hinzufügen: Die Ausbildungsdauer der OMT-Weiterbildung wurde in den letzten Jahren bei gleichzeitiger Erhöhung der Lehrinhalte um einige Hundert Stunden reduziert. Ich kenne von der IFOMPT anerkannte Studiengänge einschließlich OMT-Diplom, in denen praktische Themen wie die Untersuchung und Behandlung verschiedener Körperabschnitte kürzer unterrichtet werden als in den MT-Zertifikatskursen. Der Grund dafür ist meiner Ansicht nach die inhaltliche Überfrachtung: Früher wurde in fast 1500 Unterrichtsstunden vorwiegend Praxis und Clinical Reasoning vermittelt, zu denen heute viele theoretische Aspekte bis hin zum wissenschaftlichen Arbeiten kommen.

Die IFOMPT-Ausbildungsziele (Dimensions of OMT, Section 7 der Educational Standards on Orthopaedic Manipulative Therapy [4]) sind so umfassend, dass sie in den ca. 1000 Unterrichtsstunden unmöglich alle auf hohem Niveau erreicht werden können. Nehmen Sie als Beispiel die „Dimension 9: Demonstration of a Critical Understanding and Application of the Process of Research“ [4] – wie viele deutsche OMT-Abschlussarbeiten, die ja das Erreichen dieses Ausbildungsziels zeigen sollen, wurden schon veröffentlicht? Sehr wenige, weil die meisten, die zumindest ich gesehen habe, nicht ausreichend gut waren, selbst wenn sie aus Master-Studiengängen kamen.

Des Weiteren sind die IFOMPT-Ausbildungsrichtlinien zwar umfassend, doch recht allgemein formuliert. Einige Details aus früheren Versionen fehlen in der aktuellen. So stand z. B. in der Ausgabe von 2004 bezüglich der Manipulation: “Orthopaedic manipulative therapists have developed some unique procedures which eliminate rotary stresses and emphasize glide and distraction movements. Rotation and extension are recognized as being movements which can provide a hazard especially when applied to the cranio-vertebral region.” Diese Ablehnung der rotatatorischen Manipulationstechniken beruht auf den damit verbundenen Risiken, insbesondere an der HWS [1], [2], [8]. Dennoch werden solche rotatorischen Manipulationstechniken in den DFAMT-Gruppen teilweise unterrichtet. Sehen Sie darin eine Qualitätsverbesserung oder Standardisierung?

Und glauben Sie wirklich, dass die Absolventen der OMT-Weiterbildung der 4 DFAMT-Gruppen untereinander vergleichbar sind? Die Unterschiede in den Techniken und Vorgehensweisen bei Untersuchung und Behandlung zwischen den 4 Gruppen sind nach wie vor sehr groß, auch wenn sie sich alle an den allgemein formulierten Unterrichtszielen orientieren und diese einhalten. Die mangelnde Standardisierung sehen Sie auch, wenn Sie OMT-Absolventen verschiedener Länder miteinander vergleichen – obwohl doch alle sich an die gleichen IFOMPT-Ausbildungsrichtlinien halten müssen.

Folglich kann ich Ihnen beipflichten, dass eine lange Weiterbildung besser ist als eine kurze, auch wenn ich Ihre Argumentation nicht teile. Jedoch wollen und/oder können sich nicht alle Kollegen diese große Investition leisten, was zu respektieren ist. Daher betrachte ich die MT-Zertifikatsweiterbildung als eine in sich geschlossene Kursreihe. Wenn die Lehrer dieser Kursreihe gut sind – und das trifft sicherlich für viele der 80 Anbieter zu –, dann können sie die Manuelle Therapie auf hohem Niveau und mit den neuesten Erkenntnissen vermitteln. Wer die Zertifikatskurse mit Fleiß und Engagement absolviert, kann seine Qualität in der Untersuchung und Behandlung von Patienten wesentlich verbessern. Wer dann noch mehr möchte, dem sei die OMT-Weiterbildung gerne empfohlen – bei den DFAMT-Gruppen, die sich vielleicht ja in Zukunft mit den anderen Anbietern um eine Qualitätsverbesserung und -sicherung in der MT-Zertifikatsweiterbildung bemühen werden.

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Schomacher

 
  • Literatur

  • 1 Ernst E, Canter PH. A systematic review of systematic reviews of spinal manipulation. Journal of the Royal Society of Medicine 2006; 99: 192-196
  • 2 Ernst E. Manipulation der Wirbelsäule: Wie gut ist diese Therapieform belegt?. Manuelle Therapie 2012; 16: 170-171
  • 3 Gross A, Miller J, D’Sylva J et al. Manipulation or mobilisation for neck pain: A Cochrane Review. Manual Therapy 2010; 15: 315-333
  • 4 International Federation of Orthopaedic Manipulative Physical Therpists (IFOMPT). Educational Standards on Orthopaedic Manipulative Therapy. 2008 http://www.ifompt.org/site/ifompt/files/pdf/XXIFOMPT%20Educ%20Standards%20%20%20IM%20Doc%20Merged.pdf (06.07.2015)
  • 5 Rubinstein SM, van Middelkoop M, Assendelft WJ et al. Spinal manipulative therapy for chronic low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011; CD008112
  • 6 Rubinstein SM, Terwee CB, Assendelft WJ et al. Spinal manipulative therapy for acute low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012; CD008880
  • 7 Rubinstein SM, Terwee CB, Assendelft WJ et al. Spinal manipulative therapy for acute low back pain: an update of the cochrane review. Spine 2013; E158-E177
  • 8 Schomacher J. Manipulation der HWS und evidenzbasierte Medizin – Literaturstudie zur Manipulation für Physiotherapeuten. Manuelle Therapie 2007; 11: 229-239
  • 9 Schomacher J. Differentialdiagnostik und evidenzbasierte Untersuchung und Behandlung des SIG. pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten 2015; 67: 25-44
  • 10 Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC et al. European guidelines for the diagnosis and treatment of pelvic girdle pain, concept version of the WG4 Pelvic girdle pain. 2008; www.backpaineurope.org 06.07.2015;
  • 11 Vleeming A, Albert HB, Östgaard HC et al. European guidelines for the diagnosis and treatment of pelvic girdle pain. European Spine Journal 2008; 17: 794-819