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DOI: 10.1055/s-0036-1584460
Heißes Wasser als Extraktionsmittel
In der Phytotherapie entwickeln sich entgegen offensichtlicher Tatsachen auch in jüngster Zeit immer wieder Mythen. Ein Mythos ist die Hypothese, dass Wasser für pflanzliche, arzneiliche Zubereitungen kein geeignetes Extraktionsmittel ist. Das Europäische Arzneibuch steht für die Qualität sämtlicher Arzneistoffe und Arzneimittel, es legt die Qualitätskriterien fest. Es enthält eine ganze Reihe von Extraktmonografien, für die Wasser als Extraktionsmittel empfohlen wird. Heißes Wasser (meistens > 60 °C) ist zugelassen für Trockenextrakte aus Melissenblättern, Pfefferminzblättern, Boldoblättern, Cascararinde, Baldrianwurzeln, Artischockenblättern und Aloe. Wasser als Extraktionsmittel ohne Temperaturangaben wird beschrieben für die Trockenextraktmonografien von Weißdornblättern mit Blüten, Teufelskrallenwurzeln, Weidenrinde und Pfefferminzblättern. Die Schweizer Pharmakopöe stellt zudem ihren zusammengesetzten Feigensirup, der Sennesfrüchte als Ausgangsstoff enthält, mit einer Kaltwasserextraktion her.
Die Extraktionskraft von Wasser kann anhand von einfachen Beispielen illustriert werden: Die Anwendung des Leinsamens wird traditionell empfohlen nach einer mehrstündigen Quellung mit kaltem Wasser. Der Schleim der Leinsamen wird so aus der äußersten Schicht der Samenschale freigesetzt. Jeder Pfefferminztee wird beim heißen Aufguss innerhalb weniger Sekunden gelb, später bräunlich und riecht unweigerlich nach Pfefferminze, was bedeutet, dass auch ätherische Öle gelöst werden.
Die C-Glykoside (Vitexinderivate) in Weißdorn sind im Unterschied zu den O-Glykosiden gut wasserlöslich, ebenso einfache Glykoside wie Arbutin und Salicin. Die Ausbeute an Salicin in Weidenrindenextrakten ist höher, wenn der pH kontrolliert und auf 7,2 gehalten wird. Die in der Droge vorliegenden Ester (Salicortin und Derivate des Salicortins) beginnen bei diesen Verhältnissen zu hydrolisieren und setzen so Salicin frei (Abb. 1).
Die Antrachinonglykoside in Sennesblättern und -früchten sowie in Faulbaumrinde sind gut wasserlöslich, sodass Teebeutel durchaus eine adäquate Arzneiform auch für Laxantien sind, zumal der Hersteller von zugelassenen Produkten verpflichtet ist, das verwendete Drogenpulver zu standardisieren [1]. Entsprechend der Wasserlöslichkeit enthält auch der zusammengesetzte Feigensirup der Schweizer Pharmakopöe nach der Herstellung eine adäquate Menge an Sennosiden, verbunden mit der Möglichkeit individuell zu dosieren.
Heißes Wasser zeigt im Vergleich zu kaltem Wasser auch für verschiedene etwas lipophilere Substanzen eine beachtliche Extraktionskraft. Entsprechend hoch ist die Ausbeute an Chlorogen- und an Rosmarinsäure bei der Extraktion mit heißem Wasser. Chlorogensäure ist eine Leitsubstanz von Artischocke, Rosmarinsäure spielt bei allen Labiatendrogen eine Rolle. Kaltes Wasser ist in diesen Fällen hingegen ohne Effekt. Der Grund liegt darin, dass die Dielektrizitätskonstante von Wasser mit erhöhter Temperatur kleiner wird. Die Dipoleigenschaften des Wassers reduzieren sich, die Extraktionskraft steigt und kann gemäß vorliegender Erfahrungen etwa mit 30% Ethanol in Wasser verglichen werden. Sehr lipophile Substanzen können mit Wasser nicht extrahiert werden. So enthalten per heißem Aufguss hergestellte Johanniskrauttees kein Hyperforin und Capsaicin lässt sich aus den Schoten des spanischen Pfeffers nicht ohne Lösungsvermittler in ein wässriges System überführen.
Das gilt jedoch nicht für ätherische Öle. Die Ausbeute erreicht zwar nicht 100%, doch das ist auch nicht nötig. Heißwasserzubereitungen aus Drogen, die ätherische Öle enthalten, können therapeutisch nicht direkt mit diesen verglichen werden. Sie sind komplexer in der Zusammensetzung: Wasser extrahiert Stoffe, die im reinen ätherischen Öl nach Wasserdampfdestillation nicht enthalten sind, etwa spasmolytische Flavonoide bei der Kamille und die lokal (z.B. bei Halsschmerzen) antientzündliche Rosmarinsäure in Labiatendrogen. Sowohl aus Pfefferminzblättern als auch aus gequetschten Anis- und Fenchelfrüchten können 20 – 30% der wichtigsten Komponenten des ätherischen Öls in einem Teeaufguss gemessen werden [2]. Dabei ist es wichtig, das siedende Wasser nach der Zugabe nicht mehr weiter zu kochen, da die Gehalte danach rasch sinken, je nach Flüchtigkeit der einzelnen Komponenten.
Teilweise kann dieser Effekt auch genutzt werden: So enthalten aus einer heißen Zuckermasse gegossene Lutschtabletten aus Salbei kein Thujon, da sich dieses beim Herstellprozess verflüchtigt. Die in der traditionellen chinesischen Medizin weit verbreiteten Dekoktierungsverfahren haben bei Rhabarberwurzel zur Folge, dass von den gemäß neusten Untersuchungen in unerwarteten Mengen vorhandenen fünf Aglyka nur Rhein verbleibt und dass das – zurecht oder unrecht – in die Kritik geratene Asaron in Zubereitungen aus Calmuswurzeln (Asari radix et rhizoma) unter den Grenzwert gesenkt werden kann.
Wasser erweist sich somit als vielfältiges Extraktionsmittel, das seine Bedeutung behalten wird. Die Teezubereitung ist für die Phytotherapie zurecht unverzichtbar. Für die industrielle Extraktproduktion sind Ethanol-/Wasserextraktionen insbesondere für die weit verbreiteten Trockenextrakte in vielen Fällen vorteilhafter, da das Abdampfen von Wasser sehr energieaufwändig ist und mit Ethanol-/Wassermischungen die Volumina der Extraktionsmittel kleiner gehalten werden können. Für Wasser stehen Sprüh- und Gefriertrocknung zur Herstellung von Extrakten bei Bedarf dennoch zur Verfügung.
Dank: Wir danken dem Schweizerischen Heilmittelinstitut SWISSMEDIC, Abteilung Pharmakopöe sowie den Supportern der Fachgruppe Phytopharmazie an der ZHAW in Wädenswil für die finanzielle Unterstützung.
[1] Meilhammer B. Untersuchungen zur Hydroxyanthraceenfreisetzung aus Abführtees unter haushaltsnahen Extraktionsbedingungen. Dissertation Universität Regensburg. 2003. Referent Gerhard Franz.
[2] Niesel S. Untersuchungen zum Freisetzungsverhalten und zur Stabilität ausgewählter wertbestimmender Pflanzeninhaltsstoffe unter besonderer Berücksichtigung moderner, phytochemischer Analyseverfahren. Dissertation Freie Universität Berlin. 1992. Referent Heinz Schilcher
Präsentiert werden zudem Daten aus verschiedenen studentischen Arbeiten der ZHAW in Wädenswil. Link: https://www.zhaw.ch/de/lsfm/institute-zentren/icbt/phytopharmazie-und-naturstoffe/studium/#c25797