Z Sex Forsch 2015; 28(03): 272-281
DOI: 10.1055/s-0041-105644
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Kann Sexualität erkranken?

Peer Briken
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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Publication Date:
07 October 2015 (online)

Kann Sexualität erkranken und wenn ja, wodurch könnte eine Erkrankung der Sexualität gekennzeichnet sein? Die Fragestellung hat sowohl klinische als auch rechtliche Relevanz. Wie verhält es sich z. B. mit der Erstattung von Phosphodiesterasehemmern (PDE-5-Hemmer; z. B. Viagra®) als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, der Implantation einer Penisprothese oder dem Brustaufbau bei einer geschlechtsdysphorischen Person? Wann können sexuelle Handlungen einer pädophilen Person mit einem Kind als krankhaft und damit unter Umständen als zu dekulpieren eingeschätzt werden?

Mit dem Krankheitsbegriff werden im Sozial-, Zivil- und Strafrecht medizinische und juristische Terminologie und Vorstellungswelt miteinander in Kontakt gebracht. Es können dadurch Ansprüche der erkrankten Person und an die erkrankte Person entstehen ebenso wie ein Schutz der Person vor bestimmten Anforderungen oder ein Recht auf Unterstützung. Medizinischer und juristischer Krankheitsbegriff waren, sind und werden dabei nicht deckungsgleich. Der medizinische Krankheitsbegriff ist naturalistisch und änderungssensibel, der juristische konservierend und normativ. Der medizinische Krankheitsbegriff eilt wie fortschrittlich dem juristischen voraus, der juristische sucht nach Orientierung und Halt.

Ein sinnvoller Krankheitsbegriff dürfte ohne den wiederkehrenden und stets zu aktualisierenden Versuch, die Störung einer grundlegenden somatischen oder psychischen Funkti­on (Schramme 2014) zu objektivieren, kaum möglich sein. Dennoch kann es meines Erachtens keinen universalen und objektiven, sondern nur einen kulturrelativen und somit annäherungsweise objektivierbaren Krankheitsbegriff geben. Für eine bestimmte Zeit sollte das weitestgehend wissenschaftlich fundiert, dem Menschen hilfreich und möglichst ethisch geschehen. In der Geschichte der Sexualwissenschaft finden sich allerdings auch folgenreiche Krankheitskonstrukte, die normale Variationen (z. B. Homosexualität,[1] Masturbation) des Sexuellen pathologisierten und medikalisierten.

Das Sozialrecht definiert Krankheit als regelwidrigen, körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand, der Arbeitsunfähigkeit oder Behandlung oder beides nötig macht (Grüner 2015). Allerdings sei nicht jede Abweichung von der Idealnorm schon eine Regelwidrigkeit im Sinne des Krankheitsbegriffes. Vielmehr bedinge erst das Vorliegen von Funktionsstörungen die Regelwidrigkeit. Diese lägen dann vor, wenn eine wesentliche körperliche oder psychische Funktion nicht (mehr) in befriedigendem Umfang ausgeübt werden könne.[2] Im strafrechtlichen Kontext ist der Krankheitsbegriff bezogen auf die Schuldfähigkeitsbegutachtung paraphiler Störungen von Sexualstraftätern von Bedeutung – in der juristischen Terminologie handelt es sich hierbei um einen „hochgradig abartigen Geschlechtstrieb“ mit „schweren leib-seelischen Folgen und Enthemmtheit“ (Schreiber und Rosenau 2015: 105). Es geht also im rechtlichen und im philosophischen Kontext (Schramme 2014) um die wissenschaftliche Unterscheidung zwischen Normalität bzw. normaler Funktionsfähigkeit und Störungen dieser Funktionsfähigkeit. [3]

Damit schließt sich die Frage an, welche Norm als Maß für die Dysfunktion oder Regelwidrigkeit angelegt werden soll. Soll es eine statistische, wertende oder präskriptive Norm sein? Für die Medizinethikerin Monika Bobbert (2000) sind definierende Krankheitskriterien:

  • die Lebensbedrohlichkeit,

  • die Einschränkung grundlegender Handlungskompetenzen, und

  • die Freiheit von nicht nur geringfügigem Leiden.

Woran bemisst sich aber, ob die sexuelle Funktion gestört und nicht befriedigend ist? Was ist eine wesentliche Sexualfunktion?