Z Sex Forsch 2015; 28(03): 297-305
DOI: 10.1055/s-0041-105674
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Publication Date:
07 October 2015 (online)

Deutscher Ethikrat. Inzestverbot: Stellungnahme. Berlin: Deutscher Ethikrat 2014. 91 Seiten. Abrufbar unter http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen/inzestverbot

Das Thema Inzest unter Geschwistern wurde in den letzten Jahren zunehmend öffentlich diskutiert. Mediale Aufmerksamkeit bekam dabei besonders der Fall von Patrick S. Er hatte mit seiner Schwester, die er als Erwachsener kennengelernt hatte, über Jahre eine Beziehung geführt und vier Kinder gezeugt. Aufgrund dessen wurde er wegen Verstoßes gegen § 173 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Patrick S. legte Widerspruch gegen seine Verurteilung ein und löste eine gesellschaftliche Debatte aus. Im September 2014 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat hierzu eine Stellungnahme, in der die rechtlichen Grundlagen und Strafgründe des so genannten Inzestverbots diskutiert werden. Darin wird Position zur Frage bezogen, ob das Inzestverbot mit den Grund- und Menschenrechten vereinbar und unter ethischen Gesichtspunkten haltbar ist.

§ 173 StGB stellt den einvernehmlichen Vaginalverkehr unter Blutsverwandten auf- bzw. absteigender Linie sowie unter (Halb-)Geschwistern unter Strafe. Laut Gesetzesbegründung rechtfertigen folgende Aspekte das Verbot: (1) Schutz der Familie, (2) Wahrung der sexuellen Selbstbestimmung, (3) Kinderschutz und (4) Aufrechterhaltung der sozialen und psychologischen Funktion des Tabus.

Der im Grundgesetz verankerte Schutz der Familie als Grundelement der gesellschaftlichen Struktur gilt als vorrangiges Argument für das Inzestverbot. Die durch Inzestbeziehungen verursachte Belastung für Familienmitglieder sowie die psychischen Folgen, insbesondere für minderjährige Inzestpartner, werden als gewichtig genug eingeschätzt, um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im familiären Kontext einzuschränken. Allerdings greift laut Ethikrat das aktuelle Verbot, das sich ausschließlich auf Blutsverwandte bezieht, zu kurz. Inzestuöse Beziehungen zwischen erwachsenen Familienmitgliedern, die nicht gemeinsam aufgewachsen sind, stehen aktuell unter Strafe, während nicht blutsverwandte Mitglieder eines existierenden Familienverbundes nicht in das Verbot eingeschlossen werden. Um einen effektiven Schutz darzustellen, müsste der Familienbegriff in § 173 StGB nicht nur als rein rechtlich verstanden werden, sondern auch als lebensweltlich im Sinne eines tatsächlich gelebten Familienverbundes. Auch werden keine anderen, potenziell traumatisierenden sexuellen Handlungen bestraft, die ebenfalls erheblichen Einfluss auf einen Familienverbund haben könnten. Generell müsse Inzest unter Geschwistern separat von Eltern-Kind-Inzest betrachtet werden. Nach Ansicht des Ethikrats verändere eine sexuelle Beziehung zwischen Geschwistern nicht entscheidend die Rollen innerhalb ihrer Familie, wenn sie getrennt aufgewachsen seien, während sexuelle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern auch bei nur rechtlich-formell bestehendem Familienzusammenhang zu belastenden Rollenüberschneidungen führen. Dass Inzest häufig mit sexuellem Missbrauch gleichgesetzt wird, verkompliziert zusätzlich die Debatte. Sowohl die missbräuchliche Ausnutzung eines Machtgefälles als auch die nicht vorhandene Einvernehmlichkeit schwingen im Missbrauchsbegriff mit, obgleich sie nicht zwangsläufig Teil inzestuöser Handlungen sind.

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden unabhängig von § 173 durch mehrere Paragraphen des Strafgesetzbuches (u. a. §§ 174 – 176 Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen und Kindern, § 177 Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) geahndet, im Besonderen das Vornehmen sexueller Handlungen an leiblichen oder angenommenen minderjährigen Kindern durch ihre Eltern in § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Die Notwendigkeit eines zusätzlichen Schutzes durch § 173 StGB ist daher fraglich. Da zudem beide Beteiligte – sofern volljährig – bestraft werden, kann es sich nicht um eine Täter-Opfer-Beziehung handeln. Eine Gefährdung der sexuellen Selbstbestimmung beider Beteiligter wird somit offenbar nicht vermutet. Vielmehr schränke die mangelnde Einbeziehung anderer gewichtiger sexueller Handlungen neben dem Geschlechtsverkehr die Schutzfunktion des § 173 StGB hinsichtlich der sexuellen Selbstbestimmung ein.

Der vorgesehene Kinderschutz bezieht sich zunächst auf den Schutz der aus inzestuösen Beziehungen hervorgegangenen Kinder vor Diskriminierung. Da juristisch gesehen aber das Rechtssubjekt zum Zeitpunkt der Rechtsprechung fehle, sei dies kein triftiger Grund für ein Verbot. Auch aus der Perspektive des Kindes könne eine Nichtzeugung seines selbst zur Vermeidung der Diskriminierung nicht wünschenswert sein. Die aktuelle Inklusionsdebatte, in der die Diskriminierung von durch Behinderung oder Migrationshintergrund betroffenen Kindern thematisiert wird, sei ebenso anwendbar auf Kinder aus inzestuösen Beziehungen. Zudem spielt die mögliche Zeugung genetisch belasteter Nachkommen eine Rolle, da das Risiko hierfür bei Verwandten durch die Summierung rezessiver Erbanlagen deutlich erhöht ist. Allerdings wird auch dieses Argument als nicht haltbar eingeschätzt, da inzestuöse Handlungen auch dann strafbar seien, wenn eine Schwangerschaft durch Verhütung oder biologische Umstände ausgeschlossen wird. Darüber hinaus gibt es auch für Paare mit genetischer Vorbelastung oder Paare über 40 Jahre ebenfalls kein Zeugungsverbot, welches auch unter gesellschaftlich-ethischen Gesichtspunkten nicht denkbar sei.

Bezüglich der Aufrechterhaltung der sozialen und psychologischen Funktion des gesellschaftlichen Tabus wird von Befürwortern des § 173 StGB befürchtet, dass eine Gesetzesänderung zu einer Enttabuisierung von Inzest führe und ein falsches Signal an die Öffentlichkeit sende. Der Ethikrat ist jedoch der Ansicht, es könne nicht Sinn und Zweck eines Gesetzes sein, eine gesellschaftliche Norm aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen. Auch ohne Strafnorm würde das Tabu seine Gültigkeit behalten, was sich in Ländern ohne Inzestverbot (z. B. Frankreich, Niederlande)zeigt.

Der Ethikrat empfiehlt eine Revision des § 173 StGB. Der einvernehmliche Beischlaf von erwachsenen Geschwistern solle nicht mehr strafbar sein, ebenso der Beischlaf zwischen einem volljährigen und einem nicht volljährigen, aber über 14 Jahre alten Geschwisterteil, wenn sie nicht im selben Familienverbund aufgewachsen seien. Für Patrick S. hätte diese Änderung zur Folge, dass die Beziehung zu seiner Schwester legal würde. Für weiterhin strafbare Inzestbeziehungen hingegen solle die Strafbarkeit auf andere gewichtige sexuelle Handlungen ausgeweitet werden. Der Ethikrat kommt zu dem Schluss, dass „das Strafrecht nicht die die Aufgabe [habe], für den Geschlechtsverkehr mündiger Bürger moralische Standards oder Grenzen durchzusetzen“ (S. 74).

Die Stellungnahme bietet einen umfassenden Überblick über die juristischen Argumente, die das Verbot untermauern, sowie eine Einordnung aus heutiger Sicht. Sie weist darauf hin, dass auch ein seit langem bestehendes gesellschaftliches Tabu sich nicht einer Überprüfung auf ethische Korrektheit entziehen können sollte. Einige Aspekte bleiben jedoch vage, etwa welches Kriterium für die Feststellung vorliegender Einvernehmlichkeit herangezogen werden könnte, obwohl diese Frage bei Geschlechtsverkehr unter Geschwistern besonders bedeutsam erscheint. Auch empfiehlt der Ethikrat, andere gewichtige sexuelle Handlungen neben dem Geschlechtsverkehr im Verbot zu berücksichtigen, jedoch gibt er nicht an, an welcher Stelle die Grenze zwischen gewichtigen und nicht gewichtigen sexuellen Handlungen gezogen werden soll. Die Klärung dieser Gesichtspunkte scheint für eine Gesetzesänderung notwendig. Häufig ist überdies nicht eindeutig, ob Begründungen sich auf erwachsene Geschwister im Allgemeinen, oder auf solche beziehen, die nicht gemeinsam aufgewachsen sind. Nichtsdestotrotz ist die klare Positionierung des Ethikrats angesichts der Brisanz des Themas bemerkenswert. Die empfohlene Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung kann gewiss als positiv betrachtet werden. Für die Umsetzung aller Vorschläge sollte jedoch eine weitere Klärung bzgl. der Feststellung von Einvernehmlichkeit und der Gewichtigkeit sexueller Handlungen stattfinden.

Thula Koops und Insa Holl (Hamburg)