JuKiP - Ihr Fachmagazin für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege 2015; 04(06): 292-293
DOI: 10.1055/s-0041-106893
BHK
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitteilungen für die Mitglieder des Bundesverband Häusliche Kinderkrankenpflege e. V.

Johannes Groß
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Publication Date:
07 December 2015 (online)

Das Pflegestärkungsgesetz II – Auswirkungen auf die außerklinische Kinderkrankenpflege

Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu definiert. In Zukunft werden bei der Bewertung der Pflegebedürftigkeit nicht mehr nur die somatischen Einschränkungen, sondern auch kognitive und psychische Einschränkungen berücksichtigt. Maßgeblich sind Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeitsstörungen. Dabei spielen die bisherigen Zeitorientierungswerte keine Rolle mehr. Vielmehr geht es in der Regel um die Frage, ob die erforderliche Fähigkeit vorhanden ist und ob damit verbundene Tätigkeiten selbstständig, teilweise selbstständig oder nur unselbstständig ausgeübt werden können. Das bestehende System der drei Pflegestufen wird in ein neues System mit fünf Pflegegraden umgewandelt.

Künftig ist also der Grad der Selbstständigkeit des pflegebedürftigen Kindes ausschlaggebend. Pflegebedürftigkeit orientiert sich nicht mehr nur verrichtungsbezogen. Bei pflegebedürftigen Kindern wird der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbstständigkeit und ihrer Fähigkeitsstörungen mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt.

Im Rahmen des neuen Begutachtungsverfahrens sind Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeitsstörungen in folgenden sechs Modulen maßgebend:

  1. Mobilität, z. B. Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen

  2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, z. B. örtliche und zeitliche Orientierung

  3. Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen, z. B. nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten

  4. Selbstversorgung, z. B. Körperpflege, Ernährung (hierunter wurde bisher die „Grundpflege“ verstanden)

  5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, z. B. Medikation, Wundversorgung, Arztbesuche, Therapieeinhaltung

  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte, z. B. Gestaltung des Tagesablaufs

Bedeutung der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs für Kinder

Zunächst einmal sind nach wie vor nur die über das Normalmaß hinausgehenden Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten für den Leistungszugang relevant. Allerdings dürfte sich die differenzierte Erfassung nach den oben genannten Modulen in der Begutachtung von Kindern positiv auswirken. Gerade bei den kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, den Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen sowie bei der Bewältigung von krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen werden Bedarfslagen erfasst, die bei der heutigen Begutachtung für die Pflegestufe größtenteils nicht berücksichtigt worden sind, die aber für den Lebens- und Versorgungsalltag von pflegebedürftigen Kindern und deren Eltern von besonderer Bedeutung sind. Damit dürfte sich die Einstufung pflegebedürftiger Kinder in entsprechende Pflegegrade deutlich verbessern.

Ein Blick in die Bewertungssystematik der Module lässt erkennen, wie zukünftig in den einzelnen Modulbereichen Punkte vergeben werden:

  • Im Bereich der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten (Modul 2) wird auch das Erkennen von Risiken und Gefahren sowie das Mitteilen von elementaren Bedürfnissen und das Verstehen von Aufforderungen sowie das Beteiligen an einem Gespräch erfasst. Soweit diese Fähigkeit größtenteils vorhanden ist, wird 1 Punkt vergeben, soweit die Fähigkeit in geringerem Maße vorhanden ist, werden 2 Punkte vergeben, soweit diese Fähigkeit nicht vorhanden ist, werden 3 Punkte vergeben.

  • Im Bereich der Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (Modul 3) werden als Kriterien etwa motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe und Ängste bewertet.

  • Im Bereich der Selbstversorgung (Modul 4) werden die Kriterien für Kinder im Alter bis zu 18 Monaten durch ein besonderes Kriterium ersetzt. Bei Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme, die einen außergewöhnlichen pflegeintensiven Pflegebedarf im Bereich der Ernährung auslösen, werden für Kinder pauschal 20 Punkte vergeben. Des Weiteren werden hier auch Besonderheiten bei Sondenernährung und parenteraler Ernährung berücksichtigt.

  • Im Bereich der Bewältigung von selbstständigem Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen (Modul 5) wird die Hilfebedürftigkeit bei der Behandlungspflege ebenfalls erfasst. Des Weiteren werden Besuche von Einrichtungen zur Frühforderung bei Kindern bewertet.

  • Im Bereich der Gesttaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte (Modul 6) werden beispielsweise die Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassungen an Veränderungen, das Ruhen und Schlafen, das Sich-Beschäftigen, die zwischenmenschliche Interaktion und die Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds bewertet.

  • Für die Bewertung werden Punkte verteilt, die sich auf die Höhe des Pflegegrades wie folgt auswirken:

    • Pflegegrad 1: Kinder mit geringer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (12,5 bis < 27 Punkte)

    • Pflegegrad 2: Kinder mit erheblicher Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (27 bis < 47,5 Punkte)

    • Pflegegrad 3: Kinder mit schwerer Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (47,5 bis < 70 Punkte)

    • Pflegegrad 4: Kinder mit schwersten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit (70 bis < 90 Punkte)

    • Pflegegrad 5: Kinder mit schwersten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (90 bis 100 Punkte)

Für pflegebedürftige Kinder im Alter bis 18 Monaten werden abweichend von den oben genannten Punktwerten folgende Pflegegrade vergeben:

  • für 12,5 bis < 27 Punkte Pflegegrad 2

  • für 27 bis < 47,5 Punkte Pflegegrad 3

  • für 47,5 bis < 70 Punkte Pflegegrad 4

  • 70 bis 100 Punkte Pflegegrad 5.

Mit der Differenzierung nach Kindern im Alter bis zu 18 Monaten und Kindern über 18 Monate werden Besonderheiten berücksichtigt, die für die kleineren Kinder gelten. Ohne eine Sonderregelung wären für diese Kleinkinder in der Regel keine oder nur niedrigere Pflegegrade zu erreichen, da wie bisher der Maßstab die Selbstständigkeit im Vergleich zu altersentsprechend entwickelten Kindern ist. Dies würde pflegefachlich bei diesen Kindern nicht angemessen sein. Zudem müssten sie aufgrund der häufigen Entwicklungsveränderungen in sehr kurzen Zeitabständen neu begutachtet werden, um die jeweils angemessene Einstufung zu erhalten. Für pflegebedürftige Kinder im Alter bis zu 18 Monaten wird daher eine Sonderregelung getroffen. Sie werden im Sinne einer pauschalierten Einstufung regelhaft etwas höher eingestuft und können in diesem Pflegegrad ohne weitere Begutachtung bis zum 18. Lebensmonat verbleiben, soweit zwischenzeitlich kein Höherstufungsantrag gestellt wird oder eine Wiederholungsbegutachtung aus fachlicher Sicht geboten ist. Eine Wiederholungsbegutachtung erfolgt in diesem Zeitraum jedoch nur, wenn relevante Änderungen zu erwarten sind, zum Beispiel durch eine erfolgreiche Operation einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Damit soll sichergestellt werden, dass pflegebedürftige Kinder im Alter von 18 Monaten einen fachlich angemessenen Pflegegrad erreichen, der die natürlichen Entwicklungsschwankungen sowohl bei den pflegebedürftigen Kindern als auch bei der Vergleichsgruppe der altersentsprechend entwickelten Kinder großzügig auffängt.

Nach dem 18. Lebensmonat ist eine reguläre Einstufung fachlich angemessen, da die Kinder dann aufgrund der gewachsenen Selbstständigkeit der Vergleichsgruppe regulär fachlich angemessene Pflegegrade erreichen und die relevanten Entwicklungsfortschritte in kleineren Abständen erfolgen. Außerdem wird vermieden, dass innerhalb eines kurzen Zeitraums häufige Höherstufungs- bzw. Wiederholungsbegutachtungen durchgeführt werden müssen, die die Familien von pflegebedürftigen Kindern belasten. Damit sollen die auf körperlich und psychisch durch die Pflege eines pflegebedürftigen Kindes stark belasteten Familien zusätzlich unterstützt und entlastet werden.

Schließlich gibt es für pflegebedürftige Kinder über 18 Monate noch eine Höherstufungsmöglichkeit, sofern sie eine besondere Bedarfskonstellation aufweisen. Bei einem spezifischen, außergewöhnlich hohen Hilfebedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung können diese Kinder aus pflegefachlichen Gründen dem Pflegegrad 5 zugeordnet werden, auch wenn ihre Gesamtpunkte unter 90 liegen. Bei Kleinkindern können zwar besondere Bedarfskonstellationen vorkommen, diese führen jedoch nicht zu einem vergleich baren hohen Mehraufwand. Darüber hinaus ist der Vergleich mit altersentsprechend entwickelten Kindern maßgebend. Allerdings haben auch altersentsprechend entwickelte Kinder einen Hilfebedarf, der im Laufe ihrer Entwicklung abnimmt. Gerade Kleinkinder benötigen in jedem Fall ständige Beaufsichtigung und Hilfe. Die besondere Bedarfskonstellation einer Gebrauchsunfähigkeit beider Arme und beider Beine kann zum Beispiel bei Kindern mit infantiler Zerebralparese ab dem Alter von ca. drei Jahren gegeben sein. Daher ist in den Richtlinien zur Begutachtung von diesen Kindern festzulegen, ob und inwieweit eine besondere Bedarfskonstellation auch für Kinder und bezogen auf welche Altersstufe gelten soll. Hier bleibt abzuwarten, welchen Umgang die entsprechende Richtlinie haben wird.

Von Bedeutung sind auch die großzügigen Überleitungsregelungen:

  • Somatisch beeinträchtigte Kinder erhalten einen einfachen Stufensprung. Das bedeutet, dass ein pflegebedürftiges Kind zum Beispiel von Pflegestufe I zu Pflegegrad 2, von Pflegestufe II zu Pflegegrad 3 wechselt.

  • Kognitiv und psychisch beeinträchtigte Kinder erhalten einen doppelten Stufensprung, zum Beispiel von Pflegestufe II zu Pflegegrad 4.

  • Durch die automatische Überleitung in die neuen Pflegegrade entfällt eine Neubegutachtung.

  • Es besteht die Möglichkeit, ohne Risiko die formale Überleitung durch eine Begutachtung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) überprüfen zu lassen.

  • Eine Herunterstufung unter den Pflegegerad, der durch die formale Überleitung erreicht wurde, ist dabei ausgeschlossen.

  • Das PSG II befindet sich noch im Gesetzgebungsverfahren. Derzeit passiert es Bundestag und Bundesrat. Es soll ab 01.01.2016 in Kraft treten, allerdings noch ohne den leistungsrechtlichen Bezug. Erst ab 2017 gilt dann der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff mit den neuen Pflegegraden.


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