Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2016; 51(02): 77-78
DOI: 10.1055/s-0042-102208
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Strukturierte Patientenübergaben im Aufwachraum

Götz Bosse
,
Niklas Keller
,
Bettina Föhre
,
Susanne König
,
Claudia Spies
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Publication Date:
07 March 2016 (online)

Es ist vier Uhr nachmittags. Etwas übermüdet und v. a. hungrig schiebt die Saalanästhesistin den Patienten durch die automatischen Türen des Aufwachraums (AWR). Wie so oft hat sie den Patienten erst 20 min vor OP-Ende übernommen und wie fast immer ist der Chirurg nicht bei der Übergabe dabei. Als sie beginnt, der AWR-Pflege den Patienten vorzustellen, klingelt das DECT – ein Kollege bittet um einen Schichttausch. Als das Telefonat vorbei ist, ist die Pflegekraft bereits wieder am anderen Ende des Zimmers und versucht, einen deliranten Patienten zu beruhigen. Genervt ruft die Anästhesistin die Pflegekraft wieder zu sich, um die Übergabe wiederaufzunehmen. In den folgenden Minuten klingelt das DECT ein weiteres Mal, die Pflegekraft wird ebenfalls noch mehrmals unterbrochen. Summa summarum werden drei, vier ungeduldige Sätze zum Patienten und der OP gesagt, dann muss die Anästhesistin weiter ...

Informationsverlust durch unstrukturierte und unvollständige Kommunikation ist im modernen Krankenhausbetrieb eine Hauptursache der Patientengefährdung. Anhand von Angaben bei Sentinel Event Reports (SEs, schwerwiegenden Zwischenfälle, die das Patientenwohl ernsthaft gefährdet oder geschädigt haben), welche die Joint Commission im Zeitraum 1995–2008 kompiliert hat, wurde ineffektive Kommunikation als Kernursache in zwei Drittel aller dieser berichteten SEs identifiziert. Kommunikationsmängel zwischen und innerhalb klinischer Teams sind nicht nur die häufigste Ursache von SEs: Sie sind auch die einzige Ursache, die alle der von der Joint Commission definierten Arten von SEs auslösen kann (Agency for Healthcare Quality and Research, 2013). In diesem Kontext sind v. a. Patientenübergaben von zentraler Bedeutung und eine besondere Herausforderung: Während team- und stationsübergreifende Informationssysteme dazu dienen, Information über Patienten einzuholen (sog. „PULL-Communication“) sind Patientenübergaben die einzigen Situationen, in denen Informationen aktiv zwischen verschiedenen Teams ausgetauscht werden (sog. „PUSH-Communication“).

Die überwiegende Mehrheit aller Patienten, die täglich in Deutschland operiert werden, kommt aus dem OP und wird entweder in den Aufwachraum und / oder in eine Überwachungseinheit verlegt. Je nach benötigtem Überwachungsaufwand übergibt der Saalanästhesist den Patienten an pflegerisches oder ärztliches Personal, wobei eine Übergabe medizinisch sachdienlicher Informationen erfolgen sollte:

  • Anamnese,

  • Diagnose,

  • Eingriff und Dringlichkeit,

  • Narkoseein- und -ausleitung,

  • Besonderheiten während des perioperativen Verlaufs sowie

  • weitere Monitoring- und Behandlungsschritte.

Kenntnis um diese Faktoren beim aufnehmenden Personal reduziert Komplikationsraten und steigert sowohl die Patientensicherheit als auch Patientenzufriedenheit (Institute of Medicine, 2000).

Darüber hinaus sind Kommunikationsstrukturen auch Hilfsmittel zur Ausbildung von jüngeren Kollegen. Sie priorisieren medizinisch sachdienliche Imformationen und helfen, durch thematisches Clustering, dass diese Informationen auch nicht vergessen werden, da sie relevante Faktoren ordnen und somit verständlicher machen. Letztlich sind sie ebenfalls Werkzeuge der Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung: Nur wo ein SOLL-Standard definiert ist, kann ein IST-Zustand zielgerichtet erfasst und können Interventionen konzipiert und getestet werden.

Dennoch sind strukturierte Patientenübergaben in Deutschland eher die Ausnahme. Denn es gibt viele Faktoren, die den Ablauf einer geregelten Übergabe an und vom AWR behindern. Zunehmender Zeitdruck wird oft als das zentrale Problem genannt. Hinzu kommt, dass strukturierte Patientenübergaben an den meisten deutschen Medizinhochschulen weder Teil des Curriculums noch im Angebotsspektrum ärztlicher Fort- und Weiterbildung vorhanden sind. So haben junge Kollegen strukturierte Übergaben nicht systematisch gelernt und erfahrenere Kollegen weder Anreiz noch Möglichkeit, sich in diesem Bereich weiterzubilden.

Nichtsdestotrotz sind die Vorteile einer strukturierten Patientenübergabe schwer wegzudiskutieren. Im Laufe der letzten Dekade häufte sich die Literatur zur Implementierung von Kommunikationsstrukturen und es besteht mittlerweile ein reger Austausch über die „dos and don'ts“ einer erfolgreichen Kommunikationsstruktur, ihrer Implementierung und ihrer möglichen Outcome-Relevanz. Die kritischsten Faktoren sollen hier genannt sein. Eine Kommunikationsstruktur zur Patientenübergabe...

  • sollte nicht anecken: Kommunikationsstrukturen dürfen nicht mit existierenden Leitlinien und Checklisten und idealerweise ebenfalls nicht mit anderen in der Institution bestehenden Assessment- und Ausbildungsmethoden in Konflikt stehen.

  • muss sich lohnen: Outcome-Parameter mit klinischer Relevanz oder direkter Relevanz für den Mitarbeiter, die durch eine bessere Kommunikation positiv beeinflusst werden sollen, müssen identifiziert, erfasst und an die Mitarbeiter zurückgespiegelt werden.

  • sollte einen angemessenen Auflösungsgrad haben: Eine zu hohe Detailtiefe von Informationen kann im Klinikalltag zu Ungeduld und einem „Abschalten“ des Zuhörers führen.

  • hat keinen „aktiven“ Sender und „passiven“ Empfänger: Alle sind aktiv beteiligt. Kommunikationsschleifen – explizite Zeitpunkte, an denen Informationen nachgefragt und korrektes Verständnis beim Empfänger sichergestellt werden, sind zentral.

  • gehört dem, der es anwendet: Bei dem gesamten Prozess (Entwicklung, Implementierung, Evaluation) müssen Anwender so stark wie möglich eingebunden werden, um ein Gefühl der Miteigentümerschaft den neuen Strukturen gegenüber zu erzielen.

  • muss zielgerichtet und transparent implementiert werden: Vor Beginn der Intervention muss klar sein, welche Outcome-Parameter relevant sind, wie man diese messen möchte, wie man diese beeinflussen möchte und wie man die Ergebnisse interpretieren kann.

Obwohl das Einhalten solcher „lessons learned“ nicht automatisch den Erfolg einer Implementierung garantieren kann, so garantiert deren Missachtung sicherlich ihr Scheitern. In diesem Heft finden Sie ab q S. 136 eine Empfehlung der DGAI zur strukturierten Patientenübergabe in der perioperativen Phase. In ihr wird das SBAR-Konzept vorgestellt – ein strukturiertes Übergabekonzept, in dem versucht wurde, den oben genannten Ansprüchen gerecht zu werden.

Herausgeber

G. Geldner, Ludwigsburg

T. Hachenberg, Magdeburg

W. Koppert, Hannover

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N. Roewer, Würzburg

J. Scholz, Kiel

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H. Van Aken, Münster

H. Wulf, Marburg

K. Zacharowski, Frankfurt/Main

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L. Eberhart, Marburg

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J. Pfefferkorn, Stuttgart

J. Roesner, Rostock

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M. Schäfer, Berlin

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T. Schürholz, Aachen

U. Schwemmer, Neumarkt

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A. Walther, Stuttgart

F. Wappler, Köln

E. Weis, Nürnberg

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Dr. med. Götz Bosse1

Dr. rer. nat. Niklas Keller1

Dr. med. Bettina Föhre1

Dr. med. Susanne König1

Univ.-Prof. Dr. med. Claudia Spies1

1 Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin