physiopraxis 2016; 14(04): 20-24
DOI: 10.1055/s-0042-102400
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Internationale Studienergebnisse


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Publication Date:
22 April 2016 (online)

Chronische Nackenschmerzen – Kraniosakrale Therapie besser als bloßes Handauflegen

Kraniosakrale Therapie (CST) beeinflusst chronische Nackenschmerzen deutlicher als eine Scheintherapie. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher um Heidemarie Haller am Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin an der Medizinischen Fakultät der Uni DuisburgEssen. Sie randomisierten 54 Patienten zwischen 18 und 65 Jahren in zwei Gruppen. Alle hatten im Schnitt seit 9,6 Jahren unspezifische Nackenschmerzen mit einer Intensität von mindestens 45/100 mm auf der visuellen Analogskala (VAS). Keiner hatte Vorerfahrung mit CST. Über acht Wochen erhielten die Patienten einmal pro Woche für 45 Minuten entweder eine CST oder eine Scheinbehandlung.

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Abb.: decade3d/fotolia.com

Die CST enthielt unter anderem folgende Techniken:

  • → Lift des Os frontale und Os parietale

  • → atlantookzipitale Entspannung

  • → Traktion des Duraschlauches

  • → Dekompression des Sphenobasilargelenks (ABB. 1)

  • → Gesprächsführung, um die Körperwahrnehmung und den Prozess der somato-emotionalen Entspannung zu unterstützen

Bei der Scheintherapie berührte der Therapeut dieselben Areale wie in der CST-Gruppe. Um die CST-Gesprächsführungstechniken zu simulieren, erhielten die Patienten der Kontrollgruppe verbale Instruktionen, um ihre Körperwahrnehmung zu verbessern. Sowohl Patienten als auch Untersucher und Statistiker waren gegenüber der Gruppenzugehörigkeit verblindet.

Die Outcomes erhoben die Wissenschaftler zu Beginn, nach acht Wochen und drei Monaten. Am wichtigsten war die durchschnittliche Schmerzintensität auf der VAS während der letzten sieben Tage. Außerdem überprüften die Autoren mit Fragebögen unter anderem die Aktivitätseinschränkung, Lebensqualität, Stresswahrnehmung sowie die Schmerztoleranz mittels Algometer an Mm. levator scapulae, trapezius und semispinalis capitis.

Die Schmerzintensität fiel in der CST-Gruppe nach acht Wochen von durchschnittlich 64 auf 32/100 mm und blieb auch nach drei Monaten bei diesem Wert. 20 Patienten (74 %) beschrieben ihre Verbesserung nach acht Wochen als minimal bedeutsam (Schmerzreduktion mindestens 20 %) – nach drei Monaten waren es 21 (78 %). 12 Patienten (44 %) gaben nach der Intervention über 50 % Verbesserung an.

Bei der Scheingruppe war der Wert von 64 auf 53 und nach drei Monaten auf 48/100 mm gesunken. Bei elf Patienten (41 %) war die Verbesserung mindestens 20 %, nach drei Monaten waren es 14 (52 %). Vier Patienten (15 %) hatten sich um mindestens 50 % verbessert.

Signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen gab es unter anderem auch bei sozialen und beruflichen Einschränkungen und Lebensqualität.

Die Autoren erachten daher die CST bei chronischen Nackenschmerzen als signifikant wirksam gegenüber einer Scheintherapie.

smo
Clin J Pain 2015; DOI:10.1097/ AJP.0000000000000290

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◂ Heidemarie Haller ist Diplom-Psychologin und Wissenschaftlerin. Für ihre Studie gewann sie den Holzschuh-Preis für Komplementärmedizin. Dieser wird seit 2007 jährlich vergeben und ist mit 5.000 Euro dotiert. Er wird von der Karl und Hilde Holzschuh-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Hufelandgesellschaft ausgeschrieben.
Abb.: privat
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ABB. 1 Dekompression des Sphenobasilargelenks
Abb.: bmf-foto.de/shutterstock.com (nachgestellte Situation)

Frau Haller, Sie sind Diplom-Psychologin – wie kamen Sie auf die Idee, eine Studie zur kraniosakralen Therapie (CST) durchzuführen?

Die Idee zur Studie hatte ich 2011. Ich suchte ein Promotionsthema und hatte die CST über meine Mutter kennengelernt. Sie ist Physiotherapeutin und berichtete über die faszinierende physische und psychische Wirkung der CST, die ich näher erforschen wollte. Die Literatur umfasste zum damaligen Zeitpunkt nur eine Hand voll Studien. Diese konnten zwar einige Effekte zeigen, jedoch nicht, ob diese Effekte spezifisch auf die CST zurückzuführen sind oder nur auf Placeboeffekte durch das bloße Handauflegen. Daher habe ich dieses Studiendesign gewählt.


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Sie verwenden auch Gesprächsführungstechniken. Was kann man sich darunter vorstellen und worin unterschieden sich die Gruppen?

In der CST-Gruppe ging es dabei um die verbale Begleitung des Therapieprozesses und darum, die Aufmerksamkeit des Patienten immer wieder auf den eigenen Körper zu lenken. Wenn sich Verspannungen lösen, können Empfindungen wie Traurigkeit, Ängste oder Engegefühle im Brustkorb auftreten. Im englischsprachigen Raum wird das „emotional release“ genannt, ein Phänomen, das wir auch bei Massage oder Hypnose beobachten. Diese Emotionen aufzugreifen und durch Fragen zu unterstützen, hilft dem Patienten, mehr in Kontakt mit sich und seinen Körperempfindungen zu kommen. Während der Scheinbehandlung instruierte der Therapeut die Patienten zwar auch, ihren Körper bewusst wahrzunehmen; Äußerungen des Patienten wurden aber nicht durch Nachfragen vertieft.


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Würden Sie der verbalen Begleitung einen essenziellen Anteil an dem Effekt zusprechen?

Teilweise, doch das war individuell verschieden. Es gab Patienten, bei denen die verbale Begleitung nicht im Vordergrund stand, die große Effekte hatten. Und es gab andere, die berichteten, dass für sie die Reflexion psychischer Zusammenhänge die Wirkung auf physischer Ebene maßgeblich unterstützte.


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Mit 20 Probanden der CST-Gruppe führten Sie auch Interviews. Diese sprachen von Löschung des Schmerzgedächtnisses, mehr Selbstwirksamkeit, weniger Gereiztheit und mehr Gelassenheit. Erlebten das viele?

Diese großen Effekte hatten nicht alle. Von der Löschung des Schmerzgedächtnisses berichtete zum Beispiel nur eine Patientin, die ihre eingezeichneten Punkte aus der Schmerzzeichnung vor der Intervention nicht wiedererkannte. Über deutlich weniger Verspannungen, mehr Gelassenheit und Selbstwirksamkeit berichteten hingegen mehrere Patienten. Grundsätzlich geht es in der qualitativen Forschung aber darum, aufzuzeigen, was überhaupt passieren kann. Und es war in der Tat erstaunlich, dass möglich war, zum Teil so große Effekte zu erzielen.


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Haben Sie auch die Scheingruppe interviewt?

Nein, das wäre aber sehr interessant gewesen.


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Was ist Ihrer Meinung nach der Hauptwirkmechanismus der CST?

Das ist ein noch wenig untersuchtes Thema. Die Arbeit mit dem kraniosakralen Rhythmus führt zu einer tiefen Entspannung, die die Patienten mit meditationsähnlichen Zuständen verglichen. Dadurch kann der Körper eine oft andauernde Sympathikus-Aktivierung senken und so einen günstigen Zustand für Regeneration erreichen. Zudem gibt es strukturelle Behandlungstechniken, um Blockaden und fasziale Spannungen zu lösen. Der dritte Ansatzpunkt umfasst den Einbezug psychischer Komponenten, die mit chronischen Schmerzen in Verbindung stehen können. Wurden diese Zusammenhänge in der Therapie bewusster, berichteten Patienten über mehr Achtsamkeit für ihren Körper.


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Die Beurteilung des kraniosakralen Rhythmus ist laut Studien nicht reliabel. Haben Sie deshalb darauf verzichtet, dies als Messmethode zu verwenden?

Es wird spekuliert, dass der Rhythmus sich ändern kann, je nachdem welcher Therapeut ihn ertastet. Daher stimmt es, dass die Evaluation des kraniosakralen Rhythmus keine objektive Messemethode für Studien darstellt.


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Die Probanden hatten chronische Nackenschmerzen, wofür es eine gute Evidenz für aktive Therapie gibt. Raten Sie auch zu Training?

Ja, auch in der CST werden den Patienten Empfehlungen gegeben, etwa wieder Sport zu machen, denn natürlich ist aktives Training wichtig. Interessanterweise gab es Patienten, die erst durch die CST überhaupt wieder ihren Sport ausüben konnten. Vielleicht ist es ein guter Weg, den Patienten, die mit aktiver Therapie keine Verbesserung erleben, eine entspannende Methode wie die CST anzubieten, damit sie danach wieder besser in die Aktivität finden.


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Die CST kann ja sehr unterschiedlich aussehen und verortet sich bisweilen auch im esoterischen Grenzgebiet. Wie können sich Patienten sicher sein, einen seriösen Anbieter zu finden?

Es gibt den Craniosacral Verband Deutschland (CSVD) und den Verband der Upledger Craniosacral TherapeutInnen Deutschland (UCD), auf deren Webseiten zertifizierte Therapeuten gelistet sind. Hier können sich Patienten erkundigen.

Die Fragen stellte Stephanie Moers.


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