NOTARZT 2017; 33(01): 28-30
DOI: 10.1055/s-0042-104532
Kasuistik
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Der Duft der Provence

F. Martens
Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (komm. Direktor: PD Dr. Andreas Kahl)
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Publication Date:
13 April 2016 (online)

Der Fall

Ein Sohn fand seine 52-jährige Mutter zu Hause nicht reagierend auf dem Bett mit merkwürdig gebeugten Armen und rief daraufhin den Rettungsdienst. Die RTW-Mannschaft sah eine Frau, die nur auf kräftigere Schmerzreize Abwehrbewegungen vollbrachte. Sie ermittelten eine leicht erniedrigte pulsoxymetrische Sättigung von 92 % sowie eine Herzfrequenz von 100/min und einen Blutdruck von 130/75 mmHg. Der Blutzucker lag mit 133 mg/dl im Normalbereich. Im Schlafzimmer und schwächer in den restlichen Räumen stank es stark nach „Chemie“. Der Geruch schien von der Patientin und ihrem Schlafanzug auszugehen, weshalb dieser ausgezogen und in einem Plastiksack luftdicht verpackt wurde. Der inzwischen eingetroffene Notarzt sah jetzt eine Patientin mit Spontanbewegungen sowie Augenöffnen beim Legen einer Verweilkanüle jedoch ohne verbale Äußerungen und beschloss, die Patientin zunächst ohne Intubation in eine nahegelegene Klinik zu bringen. Eine Getränkeflasche aus Kunststoff, die neben der Patientin auf dem Bett lag, zu etwa einem Fünftel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in 2 Phasen gefüllt, asservierte der Notarzt ([Abb. 1]). Unter Kontrolle der Vitalfunktionen verlief der Transport ohne Zwischenfälle. Da sich in der Klinik die Bewusstseinslage nicht geändert hatte und jetzt immer wieder zuckende Bewegungen der Extremitäten auffielen, wurde die Patientin intubiert, beatmet und unter Analgosedation mit Propofol und Sufentanil auf die internistische Intensivstation gebracht. Wegen der stark riechenden Flüssigkeit erfolgte eine HNO-ärztliche Inspektion des Rachens und des oberen Ösophagus. Dort fand sich eine gerötete und leicht geschwollene Schleimhaut.

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Abb. 1 Flascheninhalt mit deutlich sichtbarer Trennung in 2 Phasen.

Auf der Intensivstation wurde die immer noch stark riechende Patientin mit tensidhaltigem Wasser gewaschen und nach einigen Stunden war ein eher angenehmer Geruch wahrzunehmen. Die zur Frühschicht eingetroffenen Mitarbeiter vermuteten Zitrone oder Lavendel als mögliche Duftrichtung.


Urin, Serum und ein Teil des Flascheninhalts wurden an das toxikologische Labor versandt. Dieses sah sich jedoch außerstande, die Art der Noxe zu bestimmen. Schließlich konnte die Krankenhausapotheke helfen. Der Geruch des Flascheninhalts deutete nach deren Vermutung auf Lavendelöl hin. Dieser Verdacht konnte durch ein Chromatogramm und eine FTIR-Infrarotspektrometrie (Fourier-Transformations-Infrarotspektrometer) gegen ein Referenzöl plausibel gemacht werden ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Chromatogramm eines Referenzlavendelöls und der gefundenen Mischung.

Neben Analgosedation erhielt die Patientin parenterale Ernährung, bei nicht sicher auszuschließender Aspiration antibiotische Behandlung und wegen eines vom Sohn berichteten regelmäßigen Alkoholkonsums hochdosiert Vitamin B1. Im weiteren Verlauf wurde bei guter Lungenfunktion wiederholt versucht, die Patientin wach werden zu lassen. Doch es kam mehrfach nach Propofolpause zu tonisch-klonischen Krampfanfällen, sodass die Patientin insgesamt 5 Tage beatmet werden musste. Nach Abklingen der Analgosedation zeigte sich ein ausgeprägtes hyperaktives Delir, das die Behandlung mit Clonidin, Benzodiazepinen und Haloperidol erforderte. Nach weitgehender Besserung wurde die Patientin dem Psychiater vorgestellt, der den Verdacht eines Korsakowsyndroms bzw. differenzialdiagnostisch eine beginnend demenzielle Erkrankung diagnostizierte und zunächst psychiatrische Weiterbehandlung in einer Fachklinik empfahl.