Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(12): 773-779
DOI: 10.1055/s-0042-122030
Mitteilungen
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Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft

Nr. 34 (2016)
Subject Editor: Peter Henningsen, München
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Publication History

Publication Date:
12 December 2016 (online)

Viktor von Weizsäcker

Rezeption und Wirkung[1]

Von Rainer-M.E. Jacobi

Schon seit vielen Jahren findet sich auf der Homepage der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft (www.vvwg.de) eine „Sekundärbibliografie“ mit inzwischen über 5.000 Eintragungen (Stand vom 1. Oktober 2016). Diese von dem Berliner Neurologen Wilhelm Rimpau mit Umsicht und Leidenschaft betriebene Sammlung von Arbeiten zu und über Person und Werk Viktor von Weizsäckers geht in ihren Anfängen auf eine bedeutsame Veranstaltung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt) in Heidelberg zurück. Auf Anregung des seinerzeit auf den neueingerichteten Lehrstuhl für Neurologie der Freien Universität Berlin berufenen Epileptologen Dieter Janz fand im Frühjahr 1973 ein prominent besetzter Workshop zur Lektüre und Diskussion der 1940 erschienenen Schrift Weizsäckers „Der Gestaltkreis“ statt.[2] Die dort gemachten Erfahrungen im Umgang mit diesem „so vielfach irisierenden Gebilde“[3], ließen eine eigentümliche Paradoxie erkennen: Einerseits handelt es sich um die hochaktuelle Darstellung der Grundlagen einer möglichen Wissenschaft vom Leben und andererseits ist deren Autor in den einschlägigen Diskursen nahezu unbekannt. So kam es zur Frage nach der Verfügbarkeit der Schriften Weizsäckers und nach ihrer Rezeption. Mag man die seit 1986 vom Suhrkamp Verlag betreute Ausgabe der „Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers“, die mit seinem Fragment gebliebenen Spätwerk „Pathosophie“ im Jahr 2005 zum Abschluss kam, als überwältigende Antwort auf jene erste Frage verstehen,[4] so bildet die „Sekundärbibliografie“ den ersten Schritt einer Antwort auf die Frage nach der Rezeption des Weizsäckerschen Werks. Zugleich aber führt sie auf eine erneute, nicht weniger eigentümliche Paradoxie. Denn trotz der seit fast 30 Jahren gut verfügbaren Schriften Weizsäckers (die ersten Bände der Ausgabe erschienen in rascher Folge) und einer eindrucksvollen Sekundärliteratur hat sich an der öffentlichen Präsenz dieses Autors kaum etwas verändert. In der jüngst intensiv ausgetragenen Grundlagendebatte der Lebenswissenschaften spielten weder sein Name noch sein Werk eine bemerkenswerte Rolle. Fast scheint es, als ob sich die Wirkungslosigkeit des Werks bis in die „Sekundärbibliografie“ fortsetzen würde? Es ist hoch an der Zeit, im Fall Viktor von Weizsäckers nach den Verhältnissen von Autor und Werk bzw. Rezeption und Wirkung zu fragen. Einige Andeutungen mögen zunächst genügen.[5]

Für das Verhältnis von Autor und Werk ist die Art und Weise bezeichnend, in der Weizsäcker im Rückblick auf die Wege und Wendungen seines Denkens sich um Darstellung dessen bemüht, was man als „ursprüngliche Einsicht“ zu bezeichnen pflegt, wie sie am Anfang philosophischer Konzeptionen steht.[6] Er beschreibt sie als „einen sozusagen inspiratorischen Augenblick“, den er „1915 im Felde“ erlebte: einen Augenblick, „in welchem sich mir die ursprüngliche Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt gleichsam leiblich denkend offenbart hat.“[7] Ohne der gedanklichen Entwicklung dieser Einsicht hier weiter folgen zu können, wird dennoch der Anspruch deutlich, der sich mit dem Werk Weizsäckers, insbesondere mit dessen zentraler Schrift „Der Gestaltkreis“, verbindet. Er bringt es schon sehr früh auf die Formel von der „Umgestaltung der Metaphysik“ und spricht in einem späten Text davon, dass es nötig sei, in der damit verbundenen „Revision der Grundbegriffe der Naturwissenschaft voraussichtlich noch weiter zu gehen als in der Physik“.[8]

Ganz unabhängig davon, wie dieser Anspruch zu bewerten ist und inwieweit ihm sein Autor gerecht wird, braucht es einen Umgang mit dem Werk, der etwas von jenem Anfang erkennen lässt. Denn vor aller Kritik steht das Verstehen. Und dazu muss der Leser in ein bestimmtes Verhältnis zum Werk gelangen; er „muss gleichsam das Werk bewohnt haben, das er interpretierend erschließt“. Womit gesagt ist, „dass er es auch in seinen abgelegenen, gegenwärtigen Interessen ferner liegenden Aspekten kennengelernt haben muss“.[9] In gewisser Weise wird das Werk erst im verantwortlichen Umgang mit dem Leser zu dem, was es ist. Dies erinnert an die zunächst irritierende Rede Weizsäckers von der Fortsetzung der Krankheit in den Arzt als einer Beschreibung für den „metaphysischen Ort des Arztes“ im Verhältnis zum Kranken.[10] Die Strukturverwandtschaft von Hermeneutik und Therapie ist kein Zufall, denn beide haben ihren Anfang in eben jener Einsicht von der ursprünglichen Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt. Und der Ausgang von dieser Einsicht ist es auch, der Weizsäckers Werk in eine sehr bestimmte geistige Konstellation des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts stellt: Immer geht es um die Revision der Grundbegriffe, sei es in der Physik, der Philosophie oder der Theologie, aber auch in der Literatur und in den Künsten.[11]

Doch speist sich Weizsäckers Verständnis der Medizin nicht nur aus dieser Konstellation, sondern es fügt ihr eine sehr besondere, aus der ärztlichen Praxis erwachsende Dimension hinzu. Die weit späteren Bemühungen um die „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“ und der Entwurf einer zeitgemäßen „praktischen Naturphilosophie“ stehen in dieser Tradition.[12] Insofern läge viel an einer näheren Bestimmung jener besonderen Dimension, um der Quelle einer bislang ausgebliebenen Wirkungsgeschichte gewahr zu werden. Dazu verhelfen Rezeptionsformen, die vom transdisziplinären Grundlagencharakter des Weizsäckerschen Denkens herkommen, mit einem Wort: von dessen ursprünglicher Einsicht. Auf exemplarische Weise zeigt dies die Geschichtsphilosophie – oder besser: die Anthropologie der Geschichte –, wie sie Reinhart Koselleck entworfen hat.[13]

Und damit kommt etwas in den Blick, was für die Rezeption und die Wirkung des Weizsäckerschen Werks charakteristisch zu sein scheint: nämlich das Phänomen der Verborgenheit. Wie die ursprüngliche Einsicht Weizsäckers als der eigentlich werkgenetische Anfang seines Denkens im Umgang mit diesem Autor zumeist verborgen bleibt, was zu vielfältigen Fehlinterpretationen führt, so gibt es prominente Rezeptionen, die sehr wohl im Zeichen jenes Anfangs stehen, aber nicht sogleich als Wirkung des Weizsäckerschen Werks erkennbar werden. Selten wird dieser Art von Verborgenheit so deutlich Ausdruck gegeben, wie im Fall von Emmanuel Lévinas, der im Vorwort zu einer seiner klassischen Schriften davon spricht, dass Franz Rosenzweig „zu häufig in diesem Buch gegenwärtig (sei), um zitiert zu werden“.[14] Auch bei Reinhart Koselleck war es so, dass seine nachgerade berühmt gewordenen geschichtsphilosophischen Konzepte sich zwar u. a. auch seinem Umgang mit dem Werk Weizsäckers verdankten, dies aber nicht explizit zum Ausdruck kam. Hier war es erst sein Rückblick aus Anlass des 50-jährigen Promotionsjubiläums, der diesen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang offenlegte.[15] Solches ließe sich gleichermaßen bei dem Philosophen Hans-Georg Gadamer, dem Publizisten und späteren Begründer der Politologie Dolf Sternberger, dem Literar- und Medizinhistoriker Jean Starobinski, dem Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Gottfried Boehm und dem Soziologen Dietmar Kamper zeigen – um jetzt nur diese offenkundigen Beispiele zu nennen.[16]

Man mag es als eine weitere Paradoxie beklagen, aber es gehört zum Charakter einer Sekundärbibliografie, dass sie weder solch verborgene Wirkungsgeschichten darzustellen vermag, noch gehalten ist, bibliografisch wirkmächtige Fehlinterpretationen zu verbergen. Hinzu kommen weitere, gewissermaßen immanente Verborgenheiten, die den Wert einer Sekundärbibliografie keineswegs schmälern, es aber geboten sein lassen, über angemessene Erschließungsformen einer solchen Bibliografie nachzudenken. So läge es im wirkungsgeschichtlichen Interesse, neben den bereits vorhandenen noch einige weitere Kategorisierungen vorzunehmen. Mit Rücksicht auf die vorstehenden Andeutungen zum Verhältnis von Autor und Werk bzw. von Rezeption und Wirkung sollte deutlich werden, wenn Arbeiten vorzugsweise dem Autor gelten oder aber lediglich der Autor Viktor von Weizsäcker als eine Quelle neben anderen Erwähnung findet. Wie es andererseits wünschenswert wäre, Untersuchungen kenntlich zu machen, die aus zum Teil langjähriger Beschäftigung mit dem Werk Weizsäckers erwachsen sind und insofern paradigmatischen Rang für eine kritische Auseinandersetzung gewinnen, die dem geistigen und ideengeschichtlichen Profil dieses Werks gerecht zu werden verspricht.[17]

Dazu gehören einerseits herausragende bzw. wissenschaftshistorisch bedeutsame akademische Qualifizierungsschriften, wie z. B. die Habilitationsschriften von Bernhard Waldenfels (1971) und Stephan Grätzel (1989) oder die Dissertationen von Mechthilde Kütemeyer (1973), Albert Zacher (1978), Stefan Dressler (1988), Thomas Reuster (1988), Sabrina Albracht (1993), Stephan Emondts (1993), Klaus-Martin Christ (1998) und Przemek Zybowski (2005). Wobei auch an Dissertationen zu denken ist, die sich nicht ausschließlich dem Werk Weizsäckers zuwenden, aber ein Umfeld thematisieren, das für dessen Verständnis hilfreich ist, wie z. B. von Horst-Eberhard Richter (1948), Hans Stoffels (1986), Monica Greco (1998), Elin Hakonsen Martinsen (2013), Martin Sambale (2014) und Michael Utech (2014).

Andererseits sind dies vor allem Darstellungen in systematischer Absicht, die ihren Ausgang mehr oder weniger deutlich beim transdisziplinären Grundlagencharakter des Weizsäckerschen Denkens nehmen, wie dies z. B. der Fall ist bei Dieter Wyss (1957), Yrjo Reenpää (1966), Fritz Hartmann (1973), Wolfgang Jacob (1978), Wolfgang Rumpf (1987), Peter Hahn (1988), Winfried Rorarius (1991), Reiner Wiehl (1990, 1997, 2003, 2012), Hartwig Wiedebach (2014) und Oreste Tolone (2016). In Ergänzung dazu sei auf Studien hingewiesen, die zwar in gleicher Absicht erfolgen, aber Teil größerer Untersuchungen sind und daher leicht übersehen werden; obgleich sie von dem Kontext her, in dem sie stehen, völlig neues Licht auf den ideengeschichtlichen Status des Weizsäckerschen Werks werfen. Besonders eindrucksvoll geschieht dies z. B. bei Stefan Rieger (2003, S. 348 – 435), Christian Link (2012, S. 172 – 187) und Roland Kuhn (2014, S. 111 – 264).

Schließlich ist an jene Arbeiten zu erinnern, die zwar den Autor Viktor von Weizsäcker deutlich in den Mittelpunkt stellen, dies aber in einer durchaus werkerschließenden und kommentierenden Weise. Trotz aller Unterschiede in Form und Intention seien hier Walter F. Seemann (1956), Dolf Sternberger (1976), Karl Heinz Roth (1986), Andreas Penselin (1994), Cora Penselin (1994), Udo Benzenhöfer (2007) und Bernhard H. Schmincke (2012) genannt.

Besondere Beachtung verdienen die überraschend vielfältigen Nachweise zur Rezeption des Weizsäckerschen Werks im europäischen und überseeischen Ausland. Hier fallen zunächst die italienischen und japanischen Autoren ins Auge, aber darüber hinaus konnte erst jüngst eine Reihe von einschlägigen Arbeiten in Frankreich, England und Finnland aufgefunden werden. Hier seien neben dem schon erwähnten Elin Hakonsen Martinsen (2004, 2012, 2013) noch Jan Helge Solbakk (1993, 1995) und Monica Greco (2004, 2008, 2012) genannt.[18]

Schon länger bekannt sind die mitunter sehr differenzierten und materialreichen Vorworte zu Übersetzungen von Schriften Weizsäckers, denen man eine gesonderte Verfügbarkeit wünschte; vielleicht sogar eine gesammelte Publikation in deutscher Sprache. Hier kommt eine Form von Wirkungsgeschichte zum Ausdruck, die bislang weder näher untersucht noch gewürdigt wurde. Allen voran betrifft dies Henry Ey (1958), Alfonso Álvarez Villar (1962), Toshihiko Hamanaka (1975, 1995), Bin Kimura (1992, 1994, 1995) und Paolo Augusto Masullo (1987, 1992, 1995). Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang die verdienstvolle Bemühung von Thomas Henkelmann (1990) um Verbreitung und Kommentierung Weizsäckerscher Schriften in Italien.

Von ganz eigenem Interesse sind übrigens die vielen, gelegentlich auch sehr umfangreichen Besprechungen zu den Schriften Weizsäckers. Auch hier könnte es von besonderem Interesse sein, unter Maßgabe geeigneter Kriterien eine kleine Sammlung zusammenzustellen. Nur als ein Beispiel seien einige Besprechungen zu Weizsäckers in schwerer Zeit geschriebenen zeit- und kulturgeschichtlichen Betrachtungen „Begegnungen und Entscheidungen“ genannt, deren Lektüre noch heute von einer über Werk und Person Weizsäckers hinausreichenden Bedeutsamkeit ist: Margret Boveri (1949), Victor Emil von Gebsattel (1950), Alice Platen (1951) und Oswalt von Nostitz (1967).

Mit diesen zunächst nur orientierenden Hinweisen zu einer schwer überschaubaren Sammlung unterschiedlichster Arbeiten ist noch nichts gesagt zur drängenden Frage nach der verborgenen Präsenz des Weizsäckerschen Denkens in den großen Grundlagendiskursen unserer Zeit. Seien es die von der Phänomenologie und Leibphilosophie angeregten Diskussionen zur Verkörperung des Geistigen (Fuchs 2009) oder die konfliktreichen Debatten zur sog. „Biopolitik“ und schließlich die weiten Bereiche neuer Anthropologien des Schmerzes, der Schuld, des Bildes oder des Wissens. Auch die das 20. Jahrhundert begleitende Tradition der sog. Modalanthropologie von Ernst Bloch bis Eugen Biser steht in engster Korrespondenz zu Denkfiguren bei Viktor von Weizsäcker.[19]

Dies alles sei weiteren Erkundungen zum vorliegenden Material der Sekundärbibliografie vorbehalten – zu denen hier und an dieser Stelle eingeladen wird.


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