Zeitschrift für Phytotherapie 2022; 43(S 01): S23-S24
DOI: 10.1055/s-0042-1748336
Referate | Phytotherapie 2022 – innovativ

Blutwurz – mehr Sein als Schein

Matthias F. Melzig
1   Freie Universität Berlin, Institut für Pharmazie, Königin-Luise-Str. 2+4, 14195 Berlin, Deutschland
› Author Affiliations
 

Potentilla erecta (L.) Raeusch. (syn. Tormentilla erecta L.) ([Abb. 1]) aus der Familie der Rosaceae liefert die Droge Blutwurz oder Tormentillwurzelstock, die seit mehr als 500 Jahren eine ungebrochene Tradition in der Therapie v. a. von Durchfallerkrankungen und Schleimhautentzündungen im Oralbereich aufweist [1].

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Abb. 1 Potentilla erecta (L.) Raeusch.

Durch Monografien im Europäischen Arzneibuch sind gegenwärtig der Tormentillwurzelstock und die daraus hergestellte Tinktur offizinell. Als traditionelles Arzneimittel hat die EMA die Droge bzw. Zubereitungen daraus für zwei Indikationen monografiert: bei Durchfallerkrankungen sowie bei Entzündungen im Mund- und Rachenraum, was exakt den historisch überlieferten Anwendungsgebieten entspricht. Trotz dieser Voraussetzungen gibt es auf dem Europäischen Markt seit 2008 kein offiziell zugelassenes Arzneimittel auf der Basis von Blutwurz mehr, lediglich Homöopathika, Anthroposophika, Gesundheitspflegeprodukte oder Kosmetika. Ein Grund dafür dürfte die unzureichende Anzahl von klinischen Studien sein. Allerdings lohnt es sich, die Droge Blutwurz und die daraus hergestellten Zubereitungen erneut unter phytotherapeutischen Gesichtspunkten anzuschauen, da es durchaus Bedarf für die o.g. Indikationen gibt, die gut verträglich und auch bei Kindern anwendbar sein sollten.

Klinisch nachgewiesen ist die antidiarrhoische Wirksamkeit der Tormentilltinktur bei Kindern [2]. Die antisekretorische Wirkung von Gerbstoffdrogen, wie der Blutwurz, ist verbunden mit der Hemmung der transepithelialen intestinalen Chloridionen-Sekretion und liefert damit auch eine naturwissenschaftliche Begründung für die klinische Wirksamkeit. In mehreren Übersichtsarbeiten zum Einsatz von Drogenzubereitungen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wird immer wieder auf die Blutwurz verwiesen [3] [4]] und dies mit einer klinischen Dosis-Findungsstudie begründet, die 2007 publiziert wurde [5]. Hier konnte belegt werden, dass eine Behandlung mit bis zu 3000 mg/Tag Blutwurzextrakt die klinische Symptomatik einschließlich der Entzündungsparameter von Colitis-ulcerosa-Patienten verbesserte. Erklärt wurde die Wirkung zunächst nur durch unspezifische Gerbstoffeffekte und das komplexe Inhaltsstoffspektrum der Blutwurz (Flavonoide, Triterpene, Gerbstoffe). Erst mit dem Nachweis, dass Gerbstoffe des Ellagitannin-Typs durch das humane Mikrobiom im Darm zu Urolithinen mit deutlicher entzündungshemmender Wirkung metabolisiert werden [6], konnte eine stimmige Begründung für die klinische Wirksamkeit aufgezeigt werden.

Weitere pharmakologische Effekte der Blutwurzextrakte sind antimikrobielle und entzündungshemmende Wirkungen auf der Haut [7]. Blutwurzextrakte zeigten nach lokaler Applikation auf der Haut entzündungshemmende Eigenschaften bei guter Verträglichkeit [8]. Die dafür verantwortlichen molekularen Mechanismen, u. a. Hemmung der Bildung proinflammatorischer Transkriptionsfaktoren, Zytokine und Prostaglandine, konnten aufgeklärt werden [9].

Damit gibt es neben der langen therapeutischen Tradition eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die Anwendung der Blutwurz im Sinne einer rationalen Phytotherapie. Die wenigen klinischen Studien, tierexperimentellen und in vitro-pharmakologischen Untersuchungen verweisen auf ein therapeutisches Potenzial dieser Droge zur Phytotherapie von Durchfallerkrankungen, akuter wie chronisch entzündlicher Schleimhautentzündungen sowie dermatologischer Erkrankungen [10].



Publication History

Article published online:
13 June 2022

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  • Literatur

  • 1 Madaus G.. Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Bd. III Leipzig: Thieme. 1938; 2716-2720
  • 2 Subbotina MD et al. Effect of oral administration of tormentil root extract (Potentilla tormentilla) on rotavirus diarrhea in children: a randomized, double blind, controlled trial Pediatr Infect Dis J. 2003; 22: 706-711
  • 3 Triantafyllidi A et al. Herbal and plant therapy in patients with inflammatory bowel disease Ann Gastroenterol. 2015; 28: 210-220
  • 4 Langhorst J et al. Systematic review of complementary and alternative medicine treatments in inflammatory bowel diseases J Crohns Colitis. 2015; 9: 86-106
  • 5 Huber R et al. Tormentil for active ulcerative colitis: an open-label, dose-escalating study J Clin Gastroenterol. 2007; 41: 834-838
  • 6 Piwowarski JP et al. Role of human gut microbiota metabolism in the anti-inflammatory effect of traditionally used ellagitannin-rich plant materials J Ethnopharmacol. 2014; 155: 801-809
  • 7 Tomczyk M, Latté KP. Potentilla – a review of its phytochemical and pharmacological profile J Ethnopharmacol. 2009; 122: 184-204
  • 8 Hoffmann J et al. Anti-inflammatory effects of agrimoniin-enriched fractions of Potentilla erecta Molecules. 2016; 21: (pii)-E792
  • 9 Wölfle U et al. Anti-inflammatory and vasoconstrictive properties of Potentilla erecta – A traditional medicinal plant from the northern hemisphere J Ethnopharmacol. 2017; 204: 86-94
  • 10 Melzig MF, Böttger S.. Tormentillae rhizoma – review for an underestimated European herbal drug Planta Med. 2020; 86: 1050-1057