Zeitschrift für Phytotherapie 2022; 43(S 01): S8-S9
DOI: 10.1055/s-0042-1749467
Referate | Phytotherapie 2022 – innovativ

„Chemo-Brain“ und Behandlungsoptionen aus der Phytotherapie

Matthias Rostock
1   Universitäres Cancer Center Hamburg, Hubertus Wald Tumorzentrum, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
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Mit dem Terminus „Chemobrain“ wird ein Symptomenkomplex oftmals irreführend bezeichnet, der wissenschaftlich korrekter mit der Bezeichnung „Cancer-related cognitive impairment (CRCI)“ getroffen ist. Viele Patient:innen mit einer malignen Erkrankung entwickeln entsprechende Beschwerden in Form von Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen usw. Dies betrifft vor allem Patient:innen mit malignen hämatologischen Erkrankungen, insbesondere nach erfolgter Hochdosis-Therapie mit Stammzelltransplantation, aber auch Patient:innen mit Organtumoren. Dabei geht es vor allem um Patientinnen mit einem Mammakarzinom. Viele Patientinnen beschreiben ihre Beschwerden bei dieser Diagnose erst ebenfalls nach Verabreichung intensiver Therapiemaßnahmen. Neben Zytostatika werden auch antihormonelle Therapien und zielgerichtete Therapien (targeted therapies) als Auslöser für CRCI angesehen. Letztendlich wird auch in der Fachwelt weiterhin intensiv diskutiert, inwiefern primär die antitumorale Behandlung, der Krebs selbst oder auch psychische Faktoren ursächlich für die Entwicklung von CRCI ist [1].

Dieser Symptomenkomplex ist in vielen wissenschaftlichen Arbeiten ausführlich beschrieben, pathophysiologische Ansätze werden intensiv beforscht, aber neben Maßnahmen aus der Rehabilitationsmedizin gibt es kaum weiterführende Therapien, die die Beschwerden der Patient:innen wirklich hilfreich beeinflussen könnten [2]. In Komplementärmedizin und Phytotherapie wurden verschiedene therapeutische Maßnahmen wissenschaftlich untersucht.

Im Rahmen von Transkriptomanalysen wurden in vitro Hinweise auf schützende Effekte durch Adaptogene wie Eleutherococcus senticosus , Andrographis paniculata oder die Kombination aus Extrakten von Rhodiola-rosea -Wurzel, Schisandra-chinensis -Beeren und Eleutherococcus-senticosus -Wurzeln auf Neurogliazellen unter Behandlung mit zytotoxischen Substanzen (FEC) untersucht [3]. In vivo konnte z. B. mit Triterpenen aus dem Glänzenden Lackporling ( Ganoderma lucidum ) an Mäusen die 5-FU-induzierte kognitive Dysfunktion positiv beeinflusst und dabei eine Reihe hierfür als verantwortlich angesehener Wirkmechanismen herausgearbeitet werden [4].

Angesichts dessen, dass Genese und Pathophysiologie des CRCI heute nach wie vor kontrovers diskutiert werden, erscheint es jedoch wesentlich sinnvoller, Wirkungen komplementärmedizinischer Therapieansätzen nicht über experimentelle präklinische Forschung abzuklären, sondern sich ihnen vor dem Hintergrund klinischer Empirie anzunähern und dabei die klinischen Studien, die auch zu nahe verwandten klinischen Problemstellungen, insbesondere zu Fatigue vorliegen, miteinzubeziehen.

Dabei interessiert durchaus zunächst die Gruppe der Adaptogene. Zum Ginseng wurden verschiedene Studien zur supportiven Wirkung auf Fatigue-Beschwerden von Krebspatienten durchgeführt, die sowohl zum asiatischen Ginseng (Panax ginseng) als auch zum amerikanischen Ginseng (Panax quinquefolius) Hinweise auf eine therapeutische Wirksamkeit ergeben haben [5]. Entsprechend erfolgte eine Empfehlung in der Leitlinie Komplementärmedizin in der Onkologie für diese Indikation [6].

Von Klinikern werden in den letzten Jahren Extrakte aus dem Rhizom der Rosenwurz ([Abb. 1]) vermehrt bei dieser Indikation eingesetzt. Während der Großteil der Studien mit Rosenwurzextrakt zu klassischen adaptogenen Fragestellungen durchgeführt worden ist, interessieren bei diesem Symptomenkomplex auch Therapiestudien, die eine antidepressive Wirksamkeit gezeigt haben [7].

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Abb. 1 Rhodiola rosea. Quelle: R. Saller, Zürich

In diesem Kontext soll auch noch auf eine randomisierte Studie, die in den USA mit einem Wurzelextrakt aus Valeriana officinalis in einer abendlichen Dosierung von 450 mg bei Schlafstörungen von Cancer Survivors untersucht worden ist. Die Studie hatte gegenüber Placebo keinen signifikanten Effekt auf den als primären Zielparameter verwandten Pittsburgh Sleep Quality Index gehabt, aber die in dieser Studie als sekundärer Zielparameter untersuchten Fatigue-Beschwerden wurden gegenüber Placebo signifikant verbessert [8].

Die beiden letztgenannten Punkte fordern dazu auf, den Blick auf wesentliche CRCI-unterstützende Aspekte zu weiten, ohne die eine suffiziente Behandlung m.E. nicht sinnvoll möglich ist. Ausgesprochen viele Patienten mit bzw. auch nach einer Tumorerkrankung leiden unter erheblichen Schlafstörungen. Eine Behandlung der CRCI, die ein ausgeprägtes Schlafdefizit nicht berücksichtigt, wird schwerlich erfolgreich sein. So zeigte auch die Akupressurbehandlung von Fatiguebeschwerden eine Gleichwertigkeit, teilweise eine signifikant bessere Wirksamkeit, wenn entspannungsfördernde Akupunkturpunkte gegenüber aktivitätsstimulierenden Akupunkturpunkten behandelt wurden [9].

Psychische Beschwerden sollten differentialtherapeutisch in der phytotherapeutischen Behandlung von Patient:innen mit CRCI berücksichtigt werden. Dabei spielen zum einen spannungsregulierende Phytotherapeutika, die bei innerer Unruhe und Schlafstörungen eingesetzt werden, eine Rolle. Neben dem oben beschriebenen Baldrian werden im deutschen Sprachraum u. a. häufig Lavendel, Passionsblume, Hopfen und Melisse verordnet. Aus der ayurvedischen Medizin finden zunehmend auch bei uns Extrakte aus der Schlafbeere (Withania somnifera) Anwendung. Hiermit sind Studien durchgeführt worden, die Hinweise auf eine schlaffördernde [10], stress- und angstlösende sowie antidepressive Wirksamkeit ergeben [11]. Eine erste prospektive kontrollierte Studie hatte zusätzlich Hinweise auf Fatigue-reduzierende Effekte bei Brustkrebspatientinnen ergeben [12]. In diesem Kontext ist insbesondere unter Beachtung des individuell betroffenen Patienten auch an Arzneipflanzen mit antidepressiver Wirksamkeit zu denken und damit an Hypericum perforatum . Johanniskraut-Extrakte finden sich in der Forschung in den letzten zehn Jahren primär in Interaktionsstudien wieder, nachdem ihre antidepressive Wirksamkeit bereits vor längerer Zeit u. a. in einem großen Cochrane-Review mit Metaanalyse deutlich hat belegt werden können. Erst eine kleine ältere Pilotstudie hatte auch Hinweise auf eine Fatigue-reduzierende Wirksamkeit ergeben [13], deren Nachverfolgung Sinn ergeben würde.

Für den Blattextrakt aus Ginkgo biloba gibt es eine positive Monografie des HMPC bei Patienten mit mild ausgeprägter Demenz [14]. Eine erste prospektive placebokontrollierte Studie in den USA hatte bei Brustkrebspatientinnen untersucht, ob die Einnahme von 2×60 mg Ginkgo-biloba-Extrakt (EGb 761) einen präventiven Effekt auf das Auftreten eines CRCI unter adjuvanter chemotherapeutischer Behandlung hat, konnte aber keinen Unterschied gegenüber Placebo feststellen. Leider sind die verwendeten Instrumente zumindest z.T. recht unbrauchbar gewesen, was die Autoren selbst anmerken und was die Relevanz dieser Studie erheblich schmälert [15].

Eine vor kurzem publizierte Metaanalyse aus 12 RCTs zur Misteltherapie mit insgesamt 1494 Patient:innen ergab einen moderaten Effekt der verabreichten Misteltherapie auf Fatigue-Beschwerden bei begleitender Gabe zur Chemotherapie [16]. Erhoben wurden diese zum größten Teil lediglich mit dem EORTC QLQ-C30-Fragebogen, so dass klinisch auffallende Besserungen im kognitiven Bereich nicht adäquat evaluiert worden sind. Nachfolgende Studien sollten möglichst zusätzlich validierte Messinstrumente zur Evaluation der CRCI verwenden.

Grundsätzlich spricht die klinische Erfahrung in der komplementärmedizinischen Behandlung von Patient:innen mit CRCI dafür, die Wahl für in Frage kommende Phytotherapeutika individuell an der Begleitsymptomatik zu orientieren. Bei einem solchen patientenzentrierten Vorgehen werden häufig auch bei Patienten mit langfristigen frustranen Vorerfahrungen spürbare Besserungen erreicht. Dabei empfiehlt sich der begleitende Einsatz nichtmedikamentöser Maßnahmen, die sich ebenfalls in ersten Studien als hilfreich bei CRCI und/oder Fatigue-Beschwerden herausgestellt haben. Den wissenschaftlich stärksten Hintergrund haben dabei körperliche Bewegung und Yoga. Dazu kommen Qigong und Tai-Chi sowie Mindfulness-based Stress Reduction, womit in einer ersten randomisierten Therapiestudie ebenfalls bei CRCI eine therapeutische Wirksamkeit erreicht wurde.



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Article published online:
13 June 2022

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