Der Klinikarzt 2017; 46(04): 115
DOI: 10.1055/s-0043-105821
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erfahrungsmedizin im Mondschussverfahren – Cancer Moonshot Task Force in den USA

Günther J Wiedemann
Ravensburg
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Publication Date:
24 April 2017 (online)

Of all the things I've ever lost,
I miss my mind the most
(Mark Twain)

Eine Obama-Verordnung wird wohl die Trump-Regierung überleben: der 21st Century Cures Act, Teil „Moonshot for Cancer“. Mit dieser Gesetzesinitiative soll viel Geld nicht nur in die Entwicklung neuer Krebsmedikamente, sondern auch in die schnellere Zulassung dieser Medikamente fließen.

Kritiker argumentieren heftig dagegen: Diese neue Verordnung wird nicht mehr effektive Medikamente schaffen, aber potenziell gefährlich für die Patienten sein. Wie wichtig wird für die Trump-Regierung die faktengestützte Kritik besorgter Fachleute sein, wenn eine schnellere Zulassung der ungemein teuren neuen Medikamente eine frühere Marktreife garantiert – und so größere Gewinne. Ein Milliardengeschäft.

Das ist eigentlich nicht neu. Schon heute gehört die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) in der Zulassung von Krebsmedikamenten zu den schnellsten Behörden der Welt. Schon heute kritisieren viele Fachleute die Zulassung neuer Medikamente ohne klinische Phase-III-Studie (im Vergleich zur Standardtherapie). Immer häufiger soll der klinisch relevante Nutzen neuer Medikamente nicht in sorgfältig kontrollierten Phase-III-Studien im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie, sondern bei der regelmäßigen Anwendung „in freier Wildbahn“ (zu regelmäßig überteuerten Preisen) erkannt werden. So werden bedrohliche unerwünschte Wirkungen in der täglichen Anwendung, statt in den Zulassungsstudien entdeckt. Dass solche unerwünschten Wirkungen nicht zuverlässig den Arzneimittelkommissionen und damit den Zulassungsbehörden gemeldet werden, liegt auf der Hand. Dabei wäre beispielsweise gerade in der Palliativtherapie unheilbarer Krebserkrankungen eine kritische Abwägung eines klinisch relevanten Nutzens im Vergleich zum Schaden eines innovativen Krebsmedikaments so wichtig.

Nun soll die FDA Medikamente und Medizinprodukte noch schneller zulassen. Richtig, ohne überhaupt klinische Studien durchgeführt zu haben. Man glaubt beinahe an ein typisches Trump-Dekret: die Zulassung von neuen Medikamenten und Medizinprodukten aufgrund der sogenannten „real world evidence“ (Wortlaut der Verordnung). Ganz neu ist das auch in Deutschland nicht, siehe Homöopathie. Es handelt sich um eine grandiose Aufwertung von Experten(?)-Meinungen ohne explizite Bewertung der Evidenz oder von physiologischen Modellen/Laborforschung – von wem auch immer. Das entspricht dem niedrigsten Grad (5) der Klassifizierung der Evidenzgrade nach dem Oxford Centre of Evidence Based Medicine (2001). Der Eingang neuer Medikamente oder Medizinprodukten in die, noch immer konsensbestimmten, Leitlinien ohne systematische Übersicht über randomisierte kontrollierte Studien (Evidenzgrad 1a) folgt jedenfalls daraus.

Das ist wirklich eine neue Entwicklung. Wie Kathrin Zinkant in ihrem lesenswerten Artikel in der Süddeutschen Zeitung (Bereit für die echte Welt? 20.12.2016) ausführt, erhöhte die FDA früher durch kritische Analysen auch nicht amerikanischer Medikamente die Arzneimittelsicherheit. Sehr bekannt wurde das Beispiel Contergan, in den USA nie zugelassen, weil aus Sicht der FDA das als besonders sicher vermarktete Contergan nicht ausreichend geprüft war und erste Hinweise auf eine Häufung von Fehlbildungen der Gliedmaßen unter Contergan auftraten (H.R. Wiedemann, Die Medizinische Welt 1961, 37: 1863–1866).

Bleibt die Hoffnung auf die europäische EMA. Ein Schuft, der Böses dabei denkt?