Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(10): 582-583
DOI: 10.1055/s-0043-117301
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Alte und neue Reflexe – und die Persönlichkeit des ALS-Patienten

Old and new reflexes – and the personality of ALS patients
Peter Berlit
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Publication Date:
10 October 2017 (online)

Vor 121 Jahren, im Jahr 1896, stellte Babinski bei einem Treffen der Société de Biologie in Paris das nach ihm benannte Zeichen vor [1]. Bis heute ist es derjenige klinische Test, der am zuverlässigsten eine Läsion der Pyramidenbahn anzeigt. In seiner Originalarbeit hat Babinski den Reflex als Hautreflex beschrieben, aber, wie Robert Wartenberg in seinem Buch „Die Untersuchung der Reflexe“ aus dem Jahr 1952 [7] ausführt, „ist der Babinski’sche Reflex, wenn man ihn physiologisch und phylogenetisch betrachtet, … ein Teil, und zwar ein sehr empfänglicher und deutlicher, eines gleichseitigen Massen-Beugereflexes. Mit diesem Reflex ist ein gegenseitiger Massenstreckreflex koordiniert, diese beiden Bewegungen stellen rudimentäre Erscheinungen des Klettervorgangs dar … Alles in allem können die Enthemmungserscheinungen, die bei einer Pyramidenbahnstörung in Erscheinung treten, als Erscheinung eines Fluchtreflexes betrachtet werden“.

In den folgenden Jahrzehnten wurde eine Vielzahl von Auslösemodalitäten des Babinski-Zeichens beschrieben und wird bis heute unter verschiedenen Eigennamen geführt. Im klinischen Alltag ist die Mehrzahl dieser Auslösemechanismen völlig überflüssig. Wenn das Babinski-Zeichen positiv ist, müssen andere Auslösemodalitäten nicht getestet werden. Bei plantar sehr empfindlich reagierenden Patienten kann die Auslösung des Babinski-Zeichens am äußeren Fußrücken sinnvoll sein, wie dies Chaddock beschrieben hat.

Die einzige andere Auslösemethode, die ich neben dem klassischen Babinski-Zeichen bei der klinischen Untersuchung routinemäßig prüfe, ist das sogenannte Tibialisphänomen von Strümpell. Hier schließe ich mich der Einschätzung von Wartenberg an, dass dieses neben dem Babinski-Zeichen „das wertvollste und zuverlässigste aller Pyramidenbahnzeichen ist.“

Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang, dass weder der Trömner- noch der Rossolimo-Reflex Pyramidenbahnzeichen darstellen [6]. Sowohl der Fingerbeuger- als auch der Zehenbeugerreflex sind physiologische Muskeleigenreflexe, die bei Vorliegen einer Pyramidenbahnläsion natürlich auf der Seite der Läsion lebhafter auslösbar sind als auf der Gegenseite und bei einem niedrigen Reflexniveau nur auf der spastischen Seite ausgelöst werden können. Andererseits erlauben gerade diese beiden Reflexe bei einem hohen Reflexniveau am besten das Erkennen von Seitenunterschieden.

Ein Reflex, der bei der Untersuchung von Wurzelläsionen bzw. peripheren Nervenläsionen nach wie vor zu kurz kommt, ist der Tibialis posterior-Reflex. Zu diesem Reflex, der bei einer Fuß- und Zehenheberparese die klinische Unterscheidung zwischen einer L5-Wurzelkompression und einer Peroneusdruckparese erlaubt, schreibt Wartenberg [7]:

„Es ist kaum möglich, den Tibialis posterior-Muskelreflex bei Gesunden auszulösen.“

Hier würde ich viel eher F. W. Bronisch beipflichten, der in der 2. Auflage seines Kleinen Lehrbuches der Reflexe [3] im Jahr 1966 schreibt: „Die Auslösung des Tibialis posterior-Reflexes erfordert Übung und Geduld. Dann kann man ihn bei normalen Fällen in ca. 90% auslösen.“

Trömner-Reflex, Rossolimo-Reflex und Tibialis posterior-Reflex teilen das Schicksal als nicht so einfach auslösbare Muskeleigenreflexe: sie wurden lange Zeit als Pyramidenbahnzeichen verkannt.

Klinische Zeichen, welche die Aufdeckung einer Pyramidenbahnläsion an der oberen Extremität erlauben, haben bislang im klinischen Alltag kaum routinemäßigen Einsatz gefunden.

Gelegentlich wird der Mayer`sche Fingergrundgelenkreflex noch am Krankenbett geprüft, kaum noch der von Wartenberg selbst beschriebene Reflex, bei dem sich die Beugestellung des Daumens bei einer aktiven Beugung der anderen Finger gegen Widerstand verstärkt.

Im Augustheft von Neurology haben jetzt Hachinski und Mitarbeiter [4] das upgoing thumb sign publiziert. Für die Prüfung des von Hachinski beschriebenen Pyramidenbahnzeichens müssen die Arme in pronierter Stellung angehoben werden und bei positivem Test kommt es auf der betroffenen Seite zu einer Anhebung des Daumens. Die Untersuchung erfolgt typischerweise im Sitzen, die Hände des Untersuchten liegen auf den Knien mit gestreckten Armen und das Anheben soll rasch erfolgen.

Wie in der Neurology-Arbeit ausgeführt, ist das upgoing thumb sign in der Lage, zwischen Schlaganfall und stroke mimics zu unterscheiden; der Test zeigt auch bei verschiedenen Untersuchern eine gute Reliabilität.

In Deutschland wird bei Verdacht auf einen Schlaganfall oder andersartige zentrale Parese traditionell der Arm-Halteversuch in Supinationsstellung ausgeführt und neben dem Absinken eines gelähmten Armes auch die Pronation berücksichtigt. Für die Prüfung des Hachinski-Daumenzeichens ist also ein separater Untersuchungsschritt erforderlich.

Wahrscheinlich wird dieses Zeichen das Babinski-Zeichen nicht ersetzen können, bietet aber eine Hilfe bei Kranken, die plantar extrem empfindlich reagieren oder die beispielsweise aufgrund einer Polyneuropathie oder einer Wurzelläsion Paresen der Großzehenstreckung aufweisen.

Speziell für das Krankheitsbild der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) beschreibt Wartenberg [7] in seinem Buch den Pektoro-Abdomino-Adduktoren-Reflex – damit ist die simultane Kontraktion von Bauchmuskeln, Adduktoren und Brustmuskeln mit Adduktion der Arme bei Schlag auf die Bauchmuskeln gemeint. Dieser „Reflex“ ist nichts anderes als ein Hinweis auf eine deutliche bilaterale Pyramidenbahnschädigung. Wenn eine solche Hyperreflexie sich mit atrophen Paresen und Faszikulationen kombiniert, ist natürlich die klinische Diagnose einer ALS kein Problem.

Ein ganz anderes klinisches Zeichen, welches sich in keinem Lehrbuch findet, aber nach meiner Erfahrung sehr typisch für die ALS ist, ist die Persönlichkeit des ALS-Kranken. Damit ist nicht die Assoziation der ALS mit einer frontotemporalen Degeneration gemeint, welche nach größeren Studien in bis zu 15% vorliegt [2]. Kognitive Veränderungen treten ja in bis zu 30% der ALS-Patienten im Verlauf auf und gehen ggf. mit Änderungen des Sozialverhaltens einher [5]. Abgesehen von diesen neuropsychologischen Symptomen, die sich bei der Assoziation einer ALS mit einer frontotemporalen Demenz zeigen, handelt es sich bei ALS-Kranken um grundsätzlich sehr freundliche, zugewandte und ausgesprochen liebenswerte Mitmenschen. Wenn ein Patient von der Persönlichkeit eher latent aggressiv, unfreundlich und konfliktfreudig ist, würde ich bis zum Beweis des Gegenteils bei Pyramidenbahnzeichen oder peripheren Paresen erst einmal andere Differentialdiagnosen vermuten. Der amtierende amerikanische Präsident beispielsweise erfüllt sicher nicht die Persönlichkeitsmerkmale des typischen ALS-Kranken.

 
  • Literatur

  • 1 Babinski J. Sur le reflexe cutane plantaire dans certaines affections organiques du systeme nerveux central. Compt rend Soc de biol 1896; 3: 207
  • 2 Beeldman E, Raaphorst J, Klein Twennaar M. et al. The cognitive profile of ALS: a systematic review and meta-analysis update. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016; 87: 611-619
  • 3 Bronisch FW. Kleines Lehrbuch der Reflexe. Enke Stuttgart: 2. Aufl.. 1966
  • 4 Hachinski V, Alsubaie R, Azarpazhooh MR. Upgoing thumb sign - A sensitive indicator of brain involvement?. Neurology 2017; 89: 370-375
  • 5 Ringholz GM, Appel SH, Bradshaw M. et al. Prevalence and patterns of cognitive impairment in sporadic ALS. Neurology 2005; 65: 586-590
  • 6 Troemner E. Fingerbeugephänomen. Neurol Centralbl 1912; 31: 603
  • 7 Wartenberg R. Die Untersuchung der Reflexe. Thieme; Stuttgart: 1952