PiD - Psychotherapie im Dialog 2017; 18(04): 118
DOI: 10.1055/s-0043-118087
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Boualem Sansal: 2084 – Das Ende der Welt

Wem du die Erinnerung nimmst und die Bücher, dem nimmst du das Leben
Michael Faber
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Publication Date:
07 December 2017 (online)

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Merlin Verlag 2016
978–3875363210
24 €, 288 Seiten

„Die Literatur ist eine langsame Gewalt. Wenn die Schriftsteller über ihre Wirkungslosigkeit klagen, sollte man sie nicht bemitleiden. Bücher sind autonome Wesen. Was sie in der Welt anrichten, ist unberechenbar…“ So beginnt Peter von Matt seine Laudatio auf den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2011 – Boualem Sansal. Vielleicht ist Franz Kafka das beste Beispiel für diese These: Der erste Schriftsteller, der die Aussichtslosigkeit eines in totalitären Systemen verstrickten Menschen in eindringliche Bilder und Geschichten verpackte, starb, ohne je mehr als ein paar Hundert Leser für seine Bücher erobert zu haben. Erst Jahrzehnte später mit der Erfahrung des 2. Weltkrieges wurden seine Werke weltweit in Millionen Auflagen gelesen und gedeutet und entfalteten ihre Kraft.

Nun aber sind gleich zwei ganz unterschiedliche Romane kurz hintereinander in Frankreich erschienen, die dem neuen Totalitarismus mit Sprache und Bildern eindrucksvoll begegnen: Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ und Sansals nach dem Vorbild von Orwells Roman „1984“ verfasste Parabel einer Glaubensdiktatur. Es ist der radikale Islam, der die Macht übernommen und alle Erinnerungen an die Zeit davor ausgelöscht hat. Erzählt wird die Geschichte des angsterkrankten Ati im despotischen Reich Abistan, die Vollendung der totalen Herrschaft des Gkabul und mit ihr das Diktat der Unwissenheit. Wem du die Erinnerung nimmst und die Bücher, dem nimmst du das Leben. Sofern wir unseren Lebenssinn aus unserem Wissen um die Welt und ihrer Geschichte schöpfen, um unsere eigene Position darin zu bestimmen, werden wir dem Autor Recht geben.

Und beide Bücher wurden bereits in den ersten knapp zwei Jahren über 100 000-mal allein in Frankreich verkauft, in anderen Sprachen noch um ein Vielfaches mehr. Es muss also etwas in der Welt passiert sein, was als Zustand der Angst gedeutet werden darf. Über die Ursachen der Kultur-, ja Menschenfeindlichkeit denkt Ati: „Für Leute, die nie aus ihrer Angst herausgekommen sind, ist anderswo ein Abgrund.“

Wenn für das aufgeklärte Europa der Reichtum der Menschheit in ihrer Verschiedenheit liegt, in der Vielfalt der Kulturen der Schlüssel zum Glück, so diffamieren nicht wenige das scheinbar Befremdliche und Andersartige, pochen auf Reinheit und Geschlossenheit und erklären unser persönliches Unglück als Dogma anderer Mächte und Anschauungen. So macht auch Ati die verwirrende Entdeckung, die Religion könne auf dem Gegenteil der Wahrheit errichtet sein und sich zur versessenen Hüterin der Urlüge machen. Die Urlüge? Kein Gründungsmythos ist hier gemeint, sondern die erste Lüge aller Diktaturen überhaupt: Die Anderen, das Fremde, das Abgefallene – eben dies ist die Sünde. Gleich in wessen Namen und Religion dies apostrophiert wird. Wo aber Macht entsteht, muss es auch Ohnmacht geben.

Einen solchen Text zu schreiben, solch negative Utopie zu entwerfen, muss selbst eine Tortur für den Autor darstellen, deren er sich nur unterzieht, wenn er damit eine Hoffnung auf Abänderbarkeit der Zustände erkennt. „Weder noch, nicht schmerzhaft noch lustvoll“, sagt Sansal. „Ich bin Wissenschaftler und betrachte die Dinge wie ein Verhaltensforscher … Man muss den Dingen ins Gesicht sehen, ohne sich etwas vorzumachen.“

Ein überaus düsteres Buch, dessen Lektüre aber viel Helligkeit in unser Denken bringt.

Da hilft dann auch keine Angsttherapie mehr, sondern nur noch die Erkenntnis, endlich aufzuhören mit Kriegen und der Bevormundung anderer Kontinente und Kulturen. Schon wer erneut Grenzen errichtet, gibt der Angst nach, um sie ein weiteres Mal zu reproduzieren. Angst essen Seele auf – statt Brot für die ganze Welt, was doch ein legitimer Wunsch ist und zu erfüllen wäre, gemessen am Reichtum unserer Welt. Sie gehört allen.