PiD - Psychotherapie im Dialog 2018; 19(01): 128-129
DOI: 10.1055/s-0043-123310
Resümee
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Am Schluss zählt die Stimmigkeit

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Publication Date:
13 March 2018 (online)

In den meisten westlichen Psychotherapien haben Kognitionen traditionell Priorität vor Emotionen. Kognitionen sind verbalisierbar, steuern offensichtlich Verhalten und sind oft relativ einfach zu beeinflussen. Emotionen sind hingegen schlecht fassbar und schwierig zu benennen, entziehen sich oft der willentlichen Steuerung und somit auch der therapeutischen Beeinflussbarkeit. Der häufig in Therapien von PatientInnen geäußerte Satz: „Vom Kopf her ist mir das klar, ich kann es nur nicht umsetzen“ deutet jedoch auf die Begrenztheit einer rein kognitiv ausgerichteten Betrachtung hin.

Kognition und Emotion interagieren

Sind Kognition und Emotion voneinander abhängige Konstrukte, wobei Kognitionen oft am Anfang der psychischen Anpassungskette stehen, wie Gößl und Hofmann es formulieren? Ihr Hinweis auf die Metaemotionen wird von Lammers und Berking in ihrem Modell der Emotionsregulation weitergeführt, das durch Benennen und Versprachlichung offensichtlich eine Distanzierung zum emotionalen Geschehen ermöglicht. Nach ihrem Modell sind Emotionen jedoch eine frühe adaptive Systemleistung, die nicht zwangsläufig durch kognitive Bewertungen ausgelöst werden muss. Plassmann erweitert den Blick auf die Emotionen durch Einführung der Bindungstheorie: Emotionen sind das Resultat von Bindungserfahrungen in der Kindheit und steuern auch im Erwachsenenalter Erleben und Verhalten im Rückgriff auf diese frühen Erfahrungen. In der Therapiesituation können diese Bindungserfahrungen identifiziert und korrigiert werden. Wir haben deswegen den Grawe-Schüler Wendisch gebeten, seine Überlegungen zur Rolle von Emotionen in der Psychotherapie vorzustellen: Danach sind es die entwicklungsrelevanten emotionalen Erfahrungen in Kindheit und Jugend, die die weiteren Belastungsverarbeitungsfähigkeiten beeinflussen. Daraus entwickeln sich überdauernde Bewältigungsmuster in Form von Persönlichkeitsstilen, Risikoverhaltensweisen und auch gesundheitliche Störungen im Sinne eines Schutzes vor Reaktivierung einer emotionalen früheren Ohnmachtserfahrung.


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Emotionen in der Therapie

Im praktischen Teil der therapeutischen Arbeit mit Gefühlen differenziert Sachse zunächst zwischen Emotionen als Regulativ in der Person-Umwelt-Interaktion und Affekten als intrapsychischen Prozessen. Seine Impulse zur therapeutischen Arbeit mit Emotionen, Affekten und Träumen eröffnen neue therapeutische Möglichkeiten und Sichtweisen. Anschließend nimmt uns Glasenapp mit auf eine Inselreise und schlägt eine gut anwendbare Arbeit mit Gefühlen in der Arbeit mit PatientInnen in 6 Schritten vor.

Fühlen Männer und Frauen unterschiedlich? Schigl ermutigt uns, „Doing Gender“ und den Einfluss auf die Wahrnehmung und den Ausdruck von Gefühlen in Therapien zu thematisieren. Einen weiteren wichtigen Aspekt beleuchtet Kizilhan, indem er die Abhängigkeit von Emotionsmodulation vom jeweiligen kulturellen Kontext untersucht. Das Kernstück psychoanalytischer Therapie erläutert uns Voos mit ihrer Übersicht zur Arbeit mit Emotionen in der Übertragung/Gegenübertragung. Dabei trifft sie die wichtige Unterscheidung des Entstehens von Gefühlen (auf Therapeutenseite) als quasi diagnostisches Moment und ihrer „erwachsenen“ Regulierung im Ausdruck. In ihrem Beitrag zu „Scham und Schuld“ führt Lammers eine Hierarchie von Emotionen in der Entstehung psychischer Störung ein: Die Arbeit mit diesen beiden Dimensionen hält sie für zentral in der Psychotherapie. Damit bekommen psychische Störungen bei ihr eine Schutzfunktion (wie wir es auch schon bei Wendisch lesen konnten) vor der Konfrontation mit Scham und Schuld.

Das bislang am weitesten verbreitete Programm stellen Berking und Hondong mit dem TEK (Training emotionaler Kompetenzen) vor. Sie beschreiben die einzelnen Module und referieren Belege, dass Defizite in der Emotionsregulation einen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben.


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Systemische Therapie

Wenn wir uns etwas weiter in der Psychotherapielandschaft umsehen, stoßen wir auf einen Perspektivenwechsel in der systemischen Therapie: Wagner und Russinger beschreiben einen Wandel von der ausschließlichen interaktionellen Perspektive hin zur Berücksichtigung intrapsychischer Vorgänge wie der Wahrnehmung, Verbalisierung und der Regulation von Emotionen. Anders ist die Arbeit mit Gefühlen im Psychodrama (Reineck und Buckel) und in der Gestalttherapie (Dreitzel): Beide Therapieformen sehen seit jeher die emotionale Aktivierung als wesentlichen Prozess der Therapie. Während im Psychodrama Gefühle im Spiel aktiviert werden, konzeptualisiert die Gestalttherapie die zentrale Rolle von Gefühlen und sieht die Gefühlsregulation bereits als partielle Unterdrückung von Emotionen.

Mit einem starken und tabuisierten Therapeutengefühl, der Verliebtheit, beschäftigt sich Moser. Er verlässt die analytische Abstinenzregel, indem er gezielt Berührungen und Körperkontakt in den therapeutischen Prozess einbezieht. Dass diese Haltung auch in anderen therapeutischen Ansätzen Diskussionen auslöst, ist eigentlich zu erwarten. Den Abschluss des emotionsbezogenen Teils des Heftes bildet Bergknapp mit seinen Überlegungen zur Rolle von Emotionen in Organisationen.

Im Interview vertritt Ciompi den Ansatz, dass Denken immer in einer bestimmten Stimmung (Affekt) stattfindet und dadurch maßgeblich getönt wird. Wir Menschen sind grundsätzlich in der Lage, eine „Stimmigkeit“ von Affekt und Denken zu empfinden – nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in gesellschaftlichen Prozessen.


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Wie weit sind wir?

Sind wir nun weiter als in jenem Heft der PiD, das sich 2002 mit Gefühlen beschäftigte? Wir würden meinen, dass sich in der Wichtigkeit und Konzeptualisierung, aber auch in der Umsetzung von Gefühlsregulationsmöglichkeiten durchaus Fortschritte gezeigt haben. Dass der Weg zum Verstehen der Rolle von Gefühlen noch weit ist, sehen wir aber auch 15 Jahre später, wenn wir aus dem Resümee des Themenheftes 2002 zitieren: „Aber mit den Gefühlen sind auch die dazugehörigen, ganzheitlichen Begriffe wieder da, wie etwa das Selbst, das Subjektive, die Seele, die mehr ist als nur das säkularisierte „Erleben und Verhalten“, das enzyklopädisch als Definition der Psychologie daherkommt.“ Bringen uns evidence based medicine und Leitliniendiskussionen da wirklich auf die richtige Spur?

Michael Broda & Maria Borcsa


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