Suchttherapie 2018; 19(03): 115-116
DOI: 10.1055/s-0044-101014
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Junge Geflüchtete im Hilfesystem

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Publication Date:
02 August 2018 (online)

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In den letzten Jahren, insbesondere 2015, sind in kurzer Zeit eine große Zahl von Migranten, zumeist Flüchtlinge, in die EU und nach Deutschland gekommen, darunter auch zahlreiche Minderjährige. Die damit verbundenen Herausforderungen an das Hilfesystem sind komplex.

Dr. Thomas Kuhlmann im Gespräch mit Dr. Oliver Bilke-Hentsch

Herr Dr. Bilke-Hentsch, welche Maßnahmen und Angebote im Bereich der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind Ihres Erachtens vorrangig sicherzustellen?

Die Entwicklung im Flüchtlings- beziehungsweise Migrantenbereich macht strukturelle und regionale Besonderheiten und Versäumnisse deutlich. Die Ressourcen der Jugendhilfe müssen optimal „verteilt“ werden, um kurzfristige Interventionen möglich zu machen und gleichzeitig langfristige Integration zu fördern. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen primär wegen der Arbeitstätigkeit migrierten Minderjährigen - bei ihnen wird von ihrer Herkunftsfamilie dringend erwartet, dass sie zeitnah Geld überweisen - und Flüchtlingen/Migranten mit einer langfristigen Ausbildungs- und Integrationsoption. Die individuelle Klärung der Lebenslage und der vielfältigen Verstrickungen der Jugendlichen ist hier eine wichtige Voraussetzung. Standardlösungen dürften häufig scheitern.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie stellt im ambulanten, im teilstationären wie im stationären Bereich für besonders schwierige und anspruchsvolle Fälle den optimalen Rahmen dar um Traumatisierungen, aber auch ggf. vorbestehende andere Störungen zu erkennen, die in der Altersgruppe häufig sind (Depression, Angsterkrankungen, ADS etc.). Interdisziplinäre Screening-Ansätze, gemeinsames Fallverständnis und regionale Vernetzung sind hierfür sicher nützlich.

Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Migranten (UMA’s), die 2015 nach Deutschland gekommen ist, betrug ca. 60.000 (mündliche Information des BKA), die Zahl minderjähriger Angehöriger, die mit Angehörigen gekommen sind, ist nicht bekannt: Welche Unterschiede im Hilfsbedarf dieser Zielgruppen sind vorrangig zu berücksichtigen?

Je individueller, persönlicher und entwicklungsorientierter ein Hilfebedarf beim Einzelnen erfasst und geplant werden kann, desto weniger sind später ungünstige Folgen beziehungsweise aufwendige Neujustierungen zu erwarten. Die Integration in einen Ausbildungs- und Arbeitskontext (mit gleichzeitiger Möglichkeit des Geldverdienens) ist neben dem Spracherwerb vorrangig. Einer ggf. dissozialen Gruppen- und Gangbildung alleinstehender junger Männer ist mit entsprechenden sozialarbeiterischen Methoden entgegenzuwirken. Gastfamilien, Mentoring durch gut integrierte Flüchtlinge, Sportangebote, Freizeitaktivitäten aber auch klare Hinweise auf die rechtsstaatlichen Regelungen sind unabdingbar.

Im Gegensatz dazu hat ein Minderjähriger im (mitgekommenen) Familienkontext ein wesentlich haltenderes System vor Ort, wobei nicht zu vergessen ist, dass durch die heutige Mobiltelefonie auch scheinbar allein reisende Minderjährige ggf. permanent und sehr intensiv mit ihrem Herkunftssystem kommunizieren. Dieser Aspekt wird häufig außer Acht gelassen. Dennoch sind die realen Bezugspersonen nicht verfügbar, was bei geflüchteten Gesamtfamilien wesentlich einfacher ist. Hier ist zu vermeiden, dass, ähnlich wie dies früher in Gastarbeiterfamilien öfter der Fall war, das jeweils jüngste Mitglied durch den erfolgten schnelleren Spracherwerb eine Art Sprachrohr der Familie wird und somit zusätzlich belastet wird.

Sie sind insgesamt über zehn Jahre in der Schweiz tätig und haben lange in Deutschland gearbeitet. Inwiefern und in welchem Ausmaß prägt diese Entwicklung den Alltag in der Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Im Gegensatz zur Pädiatrie und Kinderpsychosomatik ist die klinische Kinder- und Jugendpsychiatrie üblicherweise nur mit sehr ausgeprägten Fällen konfrontiert, wenn es sich um Migranten, Flüchtlinge oder bi-national aufwachsende Kinder handelt.

Die unterschiedlichen Vorstellungen von psychischer Gesundheit, Krankheit, Anpassungsfähigkeit und das unterschiedlich ausgeprägte Schamgefühl der Herkunftspopulationen erschweren häufig den Zugang zu entsprechenden Hilfen aus dem „Psycho“-Bereich. Der Umweg über andere Disziplinen ist in beiden Ländern eher die Regel. Der Zugang erfolgt somit eher über schulische oder ausbildungsrelevante Lern- und Leistungsstörungen sowie somatisch vorgebrachte Beschwerden, weswegen der Aufmerksamkeit seitens der Kinder- und Jugendärzte, aber auch der Schulpsychologen und vor allem der (Berufsschul-) Lehrer große Bedeutung zukommt.

Bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen, die von den ausländerrechtlichen Beschränkungen Arbeit aufzunehmen unmittelbar betroffen sind, wird sowohl eine erhöhte Attraktivität der Angebote aus der organisierten Drogenkriminalität als auch ein erhöhtes und tendenziell zunehmendes Suchtrisiko vermutet. Wie schätzen Sie dieses Problem ein und welche konkreten fachlichen Angebote halten Sie für erforderlich?

Aus entwicklungspsychiatrischer und suchtmedizinischer Sicht ist ein faktisches Arbeitsverbot für junge Erwachsene, vor allen Dingen für junge Männer, ein schwer auszugleichendes gesellschaftliches und gesundheitliches Risiko. Inwieweit hier direkte, gar kausale Zusammenhänge bezüglich möglicher Kriminalität gezogen werden können, muss allerdings bezweifelt werden. Es ist aber zu beachten, dass viele Migranten Drogenkonsummuster (sei es beim Ausprobierverhalten, sei es beim suchtartigen Verhalten), die sie aus den Heimatregionen kennen, quasi „mitbringen“. Dies ist auch bei Migrantenwellen aus der ehemaligen Sowjetunion eindeutig beobachtet worden. Konsequente polizeiliche Repression, Anwendung und Durchsetzung der geltenden Gesetze sowie sozialarbeiterische Begleitung müssen hier Hand in Hand gehen. Den vermutlich eher wenigen ernsthaft Suchterkrankten ist dagegen im Rahmen des Hilfesystems zeitnah und früh ein Ausstieg und eine qualifizierte Behandlung anzubieten.

Die Situation in der Schweiz und in Deutschland unterscheidet sich vielfach. Was können wir in Deutschland von der Schweiz lernen bzw. aufgreifen?

Im Vergleich zu Deutschland hat das um den Faktor 10 kleinere und durch eine Migrationskultur gekennzeichnete Land Schweiz andere Grundvoraussetzungen. Die seit über 400 Jahren demokratische neutrale Eidgenossenschaft (mit der Gemeinde und dem Kanton als zentrale politische Strukturen) ist seit mehreren Jahrzehnten ein klassisches Einwanderungsland, wobei sich die Einwanderungsmotivation auf die Arbeitstätigkeit, die gesellschaftliche Sicherheit und den auf jeder Ebene attraktiven Arbeitsmarkt bezieht. Die landschaftlichen Reize sind allgemein bekannt.

In der Schweiz leben fast 1 Million Italiener, über 400.000 Deutsche, mehrere 100.000 Portugiesen sowie viele Menschen aus den ehemaligen Jugoslawischen Ländern. Bi-nationale Ehen und Beziehungen sind häufig. Die beeindruckende Integrationsleistung in diesem Bereich ist primär durch die hohe soziale Kontrolle bei gleichzeitiger individueller Freiheit auch schon in der Primarschule, die frühzeitige Aufnahme von Ausbildungen (duales Ausbildungssystem bei nur 12-18% Matur- (Abitur) Quote und den „Integrationssog“ einer prosperierenden Wirtschaft gekennzeichnet. Das hohe Lohnniveau, auch bei sogenannten „einfachen Tätigkeiten“, ist ein weiterer wichtiger Faktor.

Die kantonal unterschiedlichen Mentalitäts-, Temperaments- und Humor-Unterschiede sind vor allem im Alltag sehr beachtlich und werden von den Einwohnern des „großen Nordkantons“ oft als eine Art „alpine Folklore“ verkannt. De facto sind die Gemeinsamkeiten beider Länder geringer als man manchmal denken mag. Die europäische Geschichte lehrt dies ebenso wie die aktuelle politische Situation. Die klare Verantwortung des Individuums für seine gesellschaftliche und soziale Situation und die eher zurückhaltend ausgebauten sozialen Sicherungssysteme bilden und fördern andere gesellschaftliche und familiäre Grundstrukturen als beispielsweise in Deutschland und auch Österreich. Die Vier-Säulen-Politik im Suchtbereich (Therapie, Repression, Rehabilitation, Prävention) ist hierfür ein typisch helvetisch-pragmatisches und hilfreiches Beispiel ohne ideologische Scheindiskussionen und politisch motivierte Spezialinteressen.

Vielen Dank für das Gespräch!